Herzwort und Kopfwort

Dieses Land trieb Hunderttausende ins Exil. Wir sollten uns daran erinnern.

Von Herta Müller (SPIEGEL Nr. 4, 21.1.13)

HertaMueller

AUSZUG aus einem SPIEGEL-Essay, in dem die aus Rumänien stammende deutsche Nobelpreisträgerin zunächst eindringlich ihre traumatischen Erfahrungen bei der Einreise in die Bundesrepublik schildert.

Wir setzen bei der Wiedergabe des Artikels bei dem Thema ein, für das die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft gemeinsam mit dem PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland („Exil-PEN") seit mehr als 20 Jahren kämpft: Für ein Zentrum der Verfolgten Künste. Mehr als 50 AutorInnen haben den Aufruf dafür unterzeichnet, darunter auch Herta Müller (Foto: dpa), Reiner Kunze, Wolf Biermann, Günter Grass, Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich, Jürgen Fuchs, aus Israel Yehuda Amichai, Prof. Paul Alsberg, Jakob Hessing, Chaim Noll und Lev Berinski sowie Salman Rushdie.

Bei (der) ungenierten Vermarktung des Wortes Exil fällt mir Gottfried Benns Verhöhnung der ins Exil Geflohenen ein. Als ihm Klaus Mann vorwirft, sich nicht von den Nazis zu distanzieren, antwortet er den Emigranten: „Da sitzen sie also in ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates."

Gegen Mitternacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte an allen Fronten in Kraft. Die „Stunde null", dieser militärische Begriff, stand danach für den Neuanfang und für das zweckmäßige Verschweigen. Hermann Lübbe, der sich nicht mehr daran erinnern kann, Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, prägt den Begriff „kommunikatives Beschwei-gen" als Voraussetzung für die Integration der Deutschen in den neuen demokratischen Staat.

Auch Adenauer gebrauchte dieses „Beschweigen", weil er beim Aufbau der Bundesrepublik ehemalige Nazis unentbehrlich fand, als „Leute, die von früher was verstehen". Er meinte damit leider nicht die Lebenserfahrung der ins Exil gejagten Wissenschaftler, Künstler, Unternehmer, Politiker, Handwerker, Juristen. Diese blieben nach dem Krieg unerwünscht. Ihre Rückkehr wühlte die Mittäter und Mitläufer auf. Sie störten das „Beschweigen".

Im Bundestagswahlkampf 1961 wurde der Heimkehrer Willy Brandt von Konrad Adenauer wegen seiner Zeit im norwegischen Exil vorgeführt, und Franz Josef Strauß krakeelte: „Eines wird man Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben."

Man hatte kein Interesse an Thomas Mann, Stefan Zweig oder Mascha Kaleko

Das „Beschweigen" stand auch am Neubeginn der deutschen Literatur, für den die Gruppe 47 steht. Hans Werner Richter hatte die Gründungsidee, und wie viele der späteren Mitglieder der Gruppe 47 war auch er ein Wehrmachtssoldat. Die Gruppe 47 wurde zur intellektuellen Börse für literarische Talente. Und das funktionierte nur, weil über die soldatische Vergangenheit der Mitglieder nicht gesprochen, keine „Grundsatzdebatten" geführt wurden. Auch hier war das „Beschweigen" zweckmäßig. Günter Grass verschwieg seine Mitgliedschaft in der SS-Division „Frundsberg" - in derselben Einheit, in der übrigens auch mein Vater war. Günter Eich verschwieg, dass er 1940 mit „Rebellion in der Goldstadt" ein Hörspiel geschrieben hatte zur Unterstützung der von Goebbels geforderten Kampagne gegen England. Alfred Andersch verschwieg, dass er sich von seiner jüdischen Frau getrennt hatte, um Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu werden. Andere wollten sich nicht mehr an ihre Mitgliedschaft in der NSDAP erinnern. Die ehemaligen Soldaten sahen sich vielmehr selbst als Opfer, als verführte, missbrauchte Generation, die unschuldig in den Krieg zog und geläutert nach Hause kam.Auch aus diesem Grund waren den Autoren der „Stunde null" die Autoren des Exils suspekt. Den ins Exil gejagten Autoren hatte nämlich die Stunde null zwölf Jahre früher geschlagen. Und ihre Stunde null bedeutete etwas ganz anderes: Nullpunkt der Existenz.

Vielleicht machte sich auch noch ein unterschwelliger Antisemitismus bemerkbar und der Vorwurf, sich in Sicherheit gebracht zu haben. Jedenfalls musste Wolfgang Koeppen Hans Werner Richter daran erinnern, dass die emigrierten Schriftsteller nicht abgehauen seien, sondern „ihren Mördern entkommen waren" und die Tragik ihres „gestohlenen Lebens" in eine neue „nazifreie" Literatur einbringen wollten.

In der Gruppe 47 konnten sie das nicht.

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Herta Müller mit Hajo Jahn und Jürgen Serke im September 2000 bei der Eröffnung des Büros der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft in der Herzogstr.42, Wuppertal-Elberfeld.

 

Als Paul Celan 1952 der Gruppe 47 seine „Todesfuge" vorlas, schlugen ihm Häme und Verachtung entgegen. Walter Jens schrieb: „Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ,Das kann doch kaum jemand hören!' Er las ja sehr pathetisch, wir haben darüber gelacht, ,Der liest ja wie Goebbels!' sagte einer." Und Hans Werner Richter spottete, Celan lese in einem „Singsang wie in einer Synagoge". Und Albert Vigoleis Thelens Buch über Mallorca als Zufluchtsort „Die Insel des zweiten Gesichts" - heute wie viele Bücher und Autoren des Exils vergessen - wurde von Richter damals als „Emigrantendeutsch" niedergemacht.

In den Tagebüchern von Richter kann man lesen, dass er die Emigranten nicht ertragen konnte. „Emigration war konservierte' Literatur der zwanziger Jahre, konservierter Stil, konservierte Sprache, konservierte Methode ... Cafehausmethode ... Was sollte ich mit ihnen?" Der Besuch von Hermann Kesten und Hans Sahl in der Gruppe 47 bestätigten ihn in dieser Ablehnung, denn beide erwarteten „Schuldkomplexe" und seien von „empfindsamer, törichter Eitelkeit". Diese Autoren störten die Übereinkunft des „Beschweigens".

Man hatte kein Interesse an Thomas Mann, Stefan Zweig, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Theodor Kramer oder an Mascha Kaleko, die 1959 für den Fontane-Preis vorgeschlagen war und ablehnte, als sie erfuhr, dass der ehemalige SS-Soldat Egon Holthusen der Jury angehörte. Ein Mitglied der Berliner Akademie appellierte an sie, dass sie „als empfindsame Frau" doch dem „armen Holthusen" nicht „ihr weibliches Mitgefühl" versagen könne. Sie blieb bei ihrem Nein, weil sie Flucht und Exil nicht außer Acht lassen konnte. Vom Generalsekretär der Akademie wurde sie dann auch noch angebellt. „Wenn es den Emigranten nicht gefällt, wie wir die Dinge hier handhaben, dann sollen sie doch fortbleiben."

So ging es auch dem Maler Oscar Zügel (seine Bilder sind im Zentrum für Verfolgte Künste in Solingen vertreten - ELS-Gesellschaft), der mit Paul Klee befreundet war. Für die Nazis waren seine Bilder „Entartete Kunst". Sie wurden beschlagnahmt und sollten mit Bildern anderer Künstler im Hof der Stuttgarter Staatsgalerie verbrannt werden. Er floh nach Tossa de Mar, dann nach Argentinien. Nach dem Krieg kam er wieder nach Stuttgart, wo der Hausmeister der Staatsgalerie einige seiner Bilder vor dem Scheiterhaufen gerettet hatte. Aber der neue Museumsdirektor wollte nichts von ihm wissen, weil er Nazi-Deutschland angeblich im Stich gelassen hatte. Auch er bekam wie viele andere Maler und Bildhauer keine Chance mehr in Deutschland.

Die Nationalsozialisten wollten die moderne Kunst auslöschen. Neben der Vernichtung der Juden war dies eines ihrer Hauptanliegen. Durch die Bücherverbrennungen 1933 und die Aktionen gegen die „Entartete Kunst" und die „Entartete Musik" sollte nicht nur die Moderne selbst, sondern auch die Erinnerung an die Moderne gelöscht werden.

Für viele Rückkehrer hatte die Stunde null schon 1933 geschlagen und - anders als die Gruppe 47 - standen die meisten 1947 an keinerlei Neuanfang, sondern immer noch am selben Nullpunkt der Existenz. Ihnen fehlte immer noch jegliche Anerkennung und materielle Lebensgrundlage. Ihre Flucht ins Exil war die erste Vertreibung aus Deutschland. Und ihre Rückkehr wurde zum „Exil nach dem Exil" - wie Hans Sahl die „zweckmäßige" Ablehnung der Emigranten nannte. Und das „Exil nach dem Exil" sorgte dafür, dass die Vertreibung von damals bis in unsere heutigen Tage wirkt. Man könnte sagen: einmal vertrieben - bis heute vergessen.

„Nirgends in diesem Land gibt es einen Ort der Erinnerung ans Exil"

Durch die Vertreibung von Schriftstellern sind literarische Traditionen gekappt worden, zum Beispiel die liedhafte Lyrik Theodor Kramers mit ihrem dunklen Inhalt. Oder die sachliche Prosa der Irmgard Keun, die zuerst nach Belgien und in die Niederlande geflohen war und nach dem Einmarsch der Wehrmacht zurück in Deutschland im Versteck überlebte. Dieses innere Exil einer Irmgard Keun war etwas anderes als die innere Emigration eines Frank Thiess, der diese „als mit der äußeren verglichen, um vieles schwerer und schmerzlicher" ansah, wie er in einem Brief an die Reichskulturkammer klagte. Nach dem Krieg spielte Thiess im deutschen Kulturbetrieb eine wichtige Rolle und wurde Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Doch von Irmgard Keun wollte niemand etwas wissen. Sie ertränkte ihre Verlassenheit im Alkohol, wurde entmündigt und wieder mal „zweckmäßig" in die Psychiatrie eingewiesen.

Wer im Exil war, gilt in Deutschland bis heute nicht als Opfer. Auch nicht im Gedenkstättenkonzept des Bundes. Es gibt zwar Gedenktafeln für einzelne Künstler, aber keinen großen Ort der Erinnerung an das Exil, an die schon 1933 vertriebenen Deutschen. Diese von Hitler Vertriebenen werden unter dem Begriff Exil oder Emigration verbucht. Das Wort Vertreibung gehört nur den Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten. Sie heißen „Heimatvertriebene". Und die von Hitler Vertriebenen heißen „Emigranten". Es ist ein sehr unterschiedliches Wortpaar: Das Wort „Heimatvertriebener" hat einen warmen Hauch, das Wort „Emigrant" hat nur sich selbst. Man könnte sagen, einem Herzwort steht ein Kopfwort gegenüber. Man muss sich doch fragen, wurden die „Emigranten" nicht aus der Heimat vertrieben?

Für die „Heimatvertriebenen", für die es sogar einmal ein eigenes Ministerium gab, gibt es nun bald eine Dauerausstellung in Berlin. Hoffentlich wird dort nicht verschwiegen, dass in der Führung des „Bundes der Vertriebenen" Mitglieder der Leibstandarte Adolf Hitler, SS-Panzergrenadiere, SA-Angehörige vertreten waren, Stützen der Diktatur. Also „Leute, die von früher was verstehen".

Deutschland sollte endlich an das Exil, diese erste Vertreibung aus Deutschland hinaus, erinnern. Die hat Deutschland nämlich genauso wie den Holocaust zu verantworten. Verkürzt gesagt, wäre ohne die erste Vertreibung aus Deutschland hinaus die zweite Vertreibung nach Deutschland hinein gar nicht passiert. Bleiben wir doch bitte bei der Reihenfolge der Ereignisse. Bevor Deutschland Vertriebenen eine neue Heimat gegeben hat, hat es Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieben.

Nirgends in diesem Land gibt es einen Ort, an dem man den Inhalt des Wortes Exil an einzelnen Schicksalen entlang darstellen kann. Das Risiko der Flucht, das verstörte Leben im Exil, Fremdheit, Armut, Angst und Heimweh. Das alles zu zeigen ist Deutschland seiner Geschichte schuldig geblieben.

Ohne einen entsprechenden Ort für das Exil wird in der öffentlichen Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus immer eine große Lücke bleiben. Auch diese Lücke ist eine Art von „Beschweigen".

In einem Exil-Museum könnten sich die jüngeren Deutschen ein Bild machen. Es wäre Erziehung zur Anteilnahme. Ein „zweckmäßiges" Museum also. So könnte man dem Wort „zweckmäßig" einen anderen, einen humanen Inhalt geben.

So, wie es das reale Zentrum für verfolgte Künste unter dem Dach des Kunstmuseums Solingen bereits gibt, existiert diese Einrichtung auch im Internet: www.exil-archiv.de.

Mit rund 1.700 Biografien verfolgter Künstler und anderen Intellektuellen einst bis heute unter www.exil-artchiv.de.

Die pädagogische Website www.exil-club.de wurde einst vom Bundesbildungsministerium unter der Leitung von Ministerin Edelgard Bulmahn mit 2 Millionen DM gefördert. Von der heutigen Bundesregierung gibt es keine Zuschüsse. Auch das „Deutsche Zentrum für Verfolgte Künste" erhält keine öffentlichen Mittel aus Berlin.

Lediglich der Landschaftsverband Rheinland wird das „Zentrum" künftig mit rund 300.000 € jährlich fördern.

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