Dr. Florence Hervé
Düsseldorf, 2. Juli 2014
(Die deutsch-französische Publizistin, Zeithistorikerin und Frauenrechtlerin Frau Dr. Hervé ist langjähriges Mitglied der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft. Ihre Ablehnung des Bundesverdienstkreuzes lässt sich auch im Sinne von Else Lasker-Schüler verstehen. Die alleinerziehende Künstlerin hatte in der Weimarer Republik die Macht der Verleger angeklagt sowie die Paragraphen 175 (Homosexuellen-Verfolgung) und 218 (Abort-Verbot) kritisiert. Wir stellen diesen bedenkenswerten Brief von Frau Hervé an Bundespräsident Gauck hier zur Diskussion).
An den
Bundespräsidenten
der Bundesrepublik Deutschland
Herrn Joachim Gauck
Schloss Bellevue
Spreeweg 1
10557 Berlin
Monsieur le Président,*
laut Anfrage durch das Büro des Oberbürgermeisters in Düsseldorf vom 10. Juni 2014 soll mir das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen werden und die öffentliche Verleihung dieser Auszeichnung heute, am 2. Juli 2014, im Düsseldorfer Rathaus erfolgen.
Mit dieser Auszeichnung von Seiten des Herrn Bundespräsidenten soll meine langjährige ehrenamtliche Arbeit in Sachen Frauenpolitik, deutsch-französischer und internationaler Zusammenarbeit anerkannt und gewürdigt werden - ein Engagement, das sich häufig im Gegensatz zur Politik der jeweiligen Bundesregierung befindet.
Ich werde diese Auszeichnung nicht annehmen.
Wichtigsten Anliegen waren und sind mir die Emanzipation der Frau, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit, der Frieden und die Solidarität mit den Völkern der Welt, die deutsch-französische Zusammenarbeit, auch im Sinne einer gründlichen Aufarbeitung der NS-Zeit. Dementsprechend habe ich versucht, mich in den vergangenen Jahrzehnten zu verhalten und einzubringen – zumeist gegen die vorherrschende politische Praxis. Das betraf mein Engagement gegen den § 218 ebenso wie den Einsatz gegen die von den damaligen Regierungen in Bonn praktizierten Duldungen der faschistischen Regime in Griechenland, Spanien, Portugal und 1973 auch Chile.
Es widerstrebt mir, eine Auszeichnung vom höchsten Repräsentanten eines Staates anzunehmen, dessen Regierungen selten den Eindruck erweckten, an der Beseitigung von Diskriminierung, sozialer Ungleichheit, an dauerhafter Abrüstung und einer friedensfördernden, gleichberechtigten Zusammenarbeit mit anderen Staaten interessiert zu sein. Derzeit nimmt indes beispielsweise die Frauenarmut wieder zu, an Kindereinrichtungen und Kinderbetreuung wird gespart, die Sorgearbeit wird nach wie vor überwiegend von Frauen geleistet, oft unter prekären Bedingungen und gering entlohnt. Kinder werden so zum „Armutsrisiko“ und Alter als „Problem“ bezeichnet. Zugleich orientiert sich die offizielle Politik in erster Linie an den „Top-Girls“ - und eben nicht an der Mehrheit der Frauen. Die wenigen Fortschritte mussten von Initiativen und Bürger/innen, von Basisbewegungen und Gewerkschaften erstritten werden
Als ich Mitte der sechziger Jahre als junge Mutter begann, mich zu engagieren, war es schwierig, Familie, Partnerschaft und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Zwar wurden inzwischen einige Verbesserungen erzielt, doch entsprechen diese in keiner Weise dem Reichtum dieses Landes. Frauen stehen heute immer noch vor der Entscheidung „Kinder oder Beruf“. Das Erziehungsgehalt („Herdprämie“) fördert diese Erscheinung und führt zu sozialer Ausgrenzung vieler Kinder gerade aus einkommensschwachen Schichten.
Inzwischen werden Frauen zum Dienst in der Bundeswehr zugelassen, mit dem fadenscheinigen Gleichstellungsargument, was viele von uns – darunter auch ich - in den 1980er-Jahren entschieden kritisiert haben. Heute werden Frauen als Soldaten in Kriegsgebiete geschickt. Zudem sollen sie die Bundeswehr „weiblicher“ machen und sie „familienfreundlicher“ erscheinen lassen. Was haben Kampfeinsätze mit Familienfamilienfreundlichkeit zu tun, was mit Emanzipation? „Wir wollen keine Kriege lindern, sondern verhindern“, hieß es schon damals. Wir brauchen keine Bundeswehrsoldaten – auch nicht weibliche – im Schulunterricht, sondern eine konsequente Friedenserziehung.
Sogenannte humanitäre Interventionen, an denen auch die Bundeswehr beteiligt war und ist, haben sich längst als inhuman erwiesen. Erinnert sei nur an Kunduz und den Kosovo-Krieg. Die Opfer sind in besonderem Maße unbeteiligte Zivilisten, Frauen und Kinder. Die Zunahme des Rüstungsexports und die angekündigte stärkere, notfalls auch militärische Interventionspolitik stehen im Widerspruch zu einer Politik des Friedens. „Die Waffen nieder“ rief schon die österreichische Friedenskämpferin Bertha von Suttner vor 125 Jahren.
Der Waffenexport der Bundesrepublik - häufig sogar in Konfliktregionen - trägt nicht zum friedlichen Zusammenleben der Völker bei. Das stimmt für die Vergangenheit mit Lieferungen von Waffen an den NATO-Partner Türkei im Kampf gegen die Kurden ebenso wie für jetzt, da Panzer und andere Waffen in die Golf-Diktaturen Qatar und Saudi-Arabien verkauft werden. Das gilt auch für die Lieferung von atomwaffenfähigen U-Booten an Israel.
Sie, Monsieur le Président*, fordern ein stärkeres Engagement in Afrika – auch im Sinne militärischer Einsätze. Dies hat mit einem friedlichen Zusammenleben wenig zu tun. Vonnöten wäre dagegen eine Aufarbeitung der historischen Verantwortung für die anhaltende Ungleichheit und Ausbeutung der betroffenen Länder vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte. Zum Beispiel gegenüber dem heutigen Namibia: Es gab 2004 eine symbolische Geste der Entschuldigung für den 1904 begangenen Völkermord an den Hereros durch die damalige Ministerin für Entwicklung und Zusammenarbeit. Dabei blieb es bis heute. Weder Entschädigung noch Wiedergutmachung folgten.
Auch Ihre Geste in Oradour-sur-Glane im September 2013 – fast 70 Jahre nach dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die SS-Division „Das Reich“ – blieb leider nur symbolisch. In Ihrer Rede erklärten Sie, mit den Überlebenden und den Familien der Opfer die Bitterkeit darüber zu teilen, „dass die Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt bleiben“. Was folgte daraus? Eine tatsächliche Aufarbeitung der Verbrechen deutet sich nicht an. Am 10. Juni 2014 fand nicht einmal ein offizielles Gedenken statt. Auch wurde bisher wenig unternommen, an deutschen Schulen künftige Generationen über das Verbrechen von Oradour aufzuklären.
Eine unzureichende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, eine nicht konsequente Bekämpfung des offenen und latenten Neonazismus und Rassismus und eine unzureichende Anerkennung des antifaschistischen Widerstands - über den 20. Juli 1944 und die Weiße Rose hinaus - kennzeichnen leider weiterhin die Politik und das Geschichtsverständnis der Bundesrepublik. Würde ich die Auszeichnung annehmen, befände ich mich zudem in einer Reihe mit solchen früheren Preisträgern, die Nazis bzw. Nazitäter waren. Soweit mir bekannt ist, wurde bis auf eine Ausnahme keinem von ihnen nachträglich das Verdienstkreuz aberkannt. Das wäre im Übrigen ein leicht machbares Unterfangen, das zudem der Geschichtsaufarbeitung diente.
Schließlich möchte ich nicht den Eindruck vermitteln, ich hätte meinen Frieden mit dieser Politik geschlossen.
Zahlreiche Menschen haben sich dafür eingesetzt, dass ich diese Auszeichnung erhalte. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich. Ich betrachte es als Ermutigung, auch künftig einzutreten für ein menschenwürdiges, gleichberechtigtes Leben von Frauen und Männern, gegen die Tolerierung von sexueller Ausbeutung und sozialer Ausgrenzung von Frauen, für ein friedliches Zusammenleben der Völker.
Ich verbinde meine Verweigerung der Annahme des Bundesverdienstkreuzes am Bande mit dem Wunsch, dass sich in der künftigen Politik dieses Staates die Ziele meines Engagements widerspiegeln.
Mit freundlichen Grüßen,
Florence Hervé
*Die Ansprache „Monsieur le Président“ wähle ich in Anlehnung an das antimilitaristische Gedicht und Chanson von Boris Vian „Le déserteur“ (1954), das zum zivilen Ungehorsam und zu gewaltloser Verweigerung des militärischen Einberufungsbefehl aufrief.