Barbara Buchholz 24. Mai 2011
Als der Kunstantiquar Gerhard Schneider 1983 zufällig auf den Nachlass des neusachlichen Malers und Valentin Nagel stieß, war er fasziniert von dessen Ausdruckskraft. Und zugleich erschrocken darüber, dass kein Mensch den derart begabten Künstler zu kennen schien. Warum nur tauchte er in keinem Lexikon auf? Schneider begann zu forschen – und entdeckte eine Moderne, von der niemand wußte. Seitdem sammelt er Werke von Künstlern, deren expressiv-gegenständliche Arbeit in Vergessenheit geraten ist. Seine Sammlung umfasst heute gut 3000 Werke verfolgter Maler und Grafiker des 20. Jahrhunderts, einiges bewahrt er bei sich zu Hause in Olpe auf. Mit artnet sprach Gerhard Schneider über die Hetzjagd der Nazis auf die Kunst, den Expressionismus in der DDR und darüber, warum Fälschungsskandale seine Arbeit nicht berühren.
artnet: Sie sammeln seit mehr als 25 Jahren Werke verfemter Künstlerinnen und Künstler – was treibt Sie an?
Gerhard Schneider: Im Laufe der Zeit ist mir eine Vielzahl hervorragender Kunstwerke aufgefallen, deren Autoren weitgehend oder auch gänzlich unbekannt waren. Bei Nachforschungen stellte sich heraus, dass es eine Menge von Verwerfungen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts gegeben hat, die bis heute nicht vollends aufgearbeitet sind. Dieser Tatsache bin ich systematisch nachgegangen. Daraus ist dann eine große Liebe geworden. Immer mehr erwuchs mir zugleich eine Verantwortung diesen Künstlern gegenüber, die durch den Gang der Geschichte und durch die Machenschaften zweier Diktaturen in Deutschland zu Unrecht hintangestellt, zum Teil auch gänzlich übergangen worden sind.
Wie ist Ihre Sammlung strukturiert?
Sie umfasst drei große Bereiche: Zunächst gibt es die künstlerischen Bilddokumente zum Geschehen des 20. Jahrhunderts, gewissermaßen ein Zeitenspiegel. Er beginnt mit der Bekanntgabe des Kriegszustandes am 31. Juli 1914, einer Lithografie von Wilhelm Schnarrenberger, und reicht bis nach der Wende von 1989. Der zweite Bereich, der umfangreichste, schließt die Zeit vom expressionistischen Aufbruch um 1910 bis zur NaziVerfemung ein. Im dritten Teil schlussendlich geht es um die Behauptung expressiver Gegenständlichkeit nach 1945.
Von der Art Kunst, die Sie sammeln, wurde vieles zerstört oder gilt als verschollen. Wie und wo entdecken Sie solche Werke?
Auf Auktionen oder in Kunsthandlungen tauchen immer mal wieder Kunstwerke auf, die einen buchstäblich überraschen. In der Regel forsche ich dann nach den unbekannten Künstlerinnen oder Künstlern: Hin und wieder passiert es dann, dass ich auf einen umfangreichen Nachlass stoße. Mittlerweile werde ich aber auch häufig kontaktiert. Es ist jedenfalls eine irrsinnig aufwendige Arbeit, und es bedarf auch vieler Freunde und Bekannter, die mich auf eine Sache aufmerksam machen.
Inwiefern hat der aktuelle Fälschungsskandal um die Sammlung Werner Jägers Ihre Arbeit als Sammler beeinflusst?
Gar nicht. Denn da geht es ausschließlich um allseits bekannte Künstler, deren Werke viel Geld bringen. Diejenigen, die ich sammele, sind für Fälschungen nicht attraktiv genug. Und von den ganz großen Namen besitze ich vor allem Druckgrafik, die bislang nur selten gefälscht wird.
Als Ihr „Urerlebnis“ bezeichnen Sie die Begegnung mit dem Nachlass des Malers Valentin Nagel um 1983. Was hat Sie daran so fasziniert?
Ein Bekannter aus Mainz zeigte mir ein Konvolut mit Nagel-Arbeiten, teilweise lieblos in Mappen gelegt und manche auch mit Beschädigungen. Als ich diese unglaublich beeindruckenden Ölbilder (über 20) und die fast noch überzeugenderen Zeichnungen (über 100) gesehen hatte, konnte ich mir nicht erklären, dass Valentin Nagel in keinem Lexikon zu finden war. Immerhin lag bei den Bildern auch ein Studentenausweis der bekannten Kunstschule Hans Hofmann in München von 1928. Dass Valentin Nagel sonst nirgends Spuren hinterlassen zu haben schien, musste seinen Grund haben. Er mochte ein zurückgezogener Exzentriker gewesen sein, aber ein Künstler will und muss von Berufs wegen an die Öffentlichkeit gehen. Ich begann zu forschen und sah den Grund für seine bislang „nicht vorhandene Existenz“ zu einem wesentlichen Teil in der Tatsache begründet, dass die Nazis solche Kunst als „entartet“ angesehen haben.
Sie sind bei Ihren Recherchen auf das Buch „Die Kunst der verschollenen Generation“ gestoßen, das der Marburger Kunsthistoriker Rainer Zimmermann 1980 herausgebracht hat.
Ja, das hat mich auf die Spur gebracht, dass das Schicksal Valentin Nagels keinen Einzelfall darstellte. Ich habe auch längere Zeit mit Rainer Zimmermann zusammengearbeitet; aber es war für mich unter anderem schwierig nachzuvollziehen, dass er eine Stilrichtung, die er als expressiven Realismus bezeichnete, weitgehend mit der künstlerischen Leistung einer ganzen Generation gleichsetzte; denn die Kunst des 20. Jahrhunderts hat eine Vielfalt an Formensprachen hervorgebracht.
Trotzdem haben Sie auch einen Überbegriff für die Werke in Ihrer Sammlung gewählt: Die expressive Gegenständlichkeit.
Damit vermeide ich aber jede Art der Zuordnung zu einem Ismus. Durch den Begriff der expressiven Gegenständlichkeit, scheint es mir gelungen zu sein, die Künstler in ihrer schöpferischen Eigenwertigkeit herauszustellen. Sie orientieren sich am expressionistischen Gestaltungskanon, dem Abrücken von der Lokalfarbigkeit und dem Deformationsprinzip als weiterem Mittel der Ausdruckssteigerung; beziehen sich aber dabei stets auf Phänomene des Gegenständlichen. Das kann auch hohe Abstraktionsgrade einschließen, nur das Dargestellte muss (noch) erkennbar sein.
Worin besteht die Tragik der um 1900 geborenen „verschollenen“ Künstlergeneration?
Die meisten dieser Künstler waren gerade erst dabei, sich einen Namen zu machen, als die Ideologie der Nationalsozialisten mit ihrer Diffamierung vermeintlich „entarteter Kunst“ begann. Über 20.000 Kunstwerke von ca. 1400 Künstlern und Künstlerinnen wurden allein aus „großdeutschen“ Museen konfisziert und in sogenannten Femeschauen diskreditiert. Auf dem Höhepunkt der Hetze, der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München, stellte man 118 Künstlerinnen und Künstler an den Pranger. Neben den berühmten Mitgliedern der Brücke, des Blauen Reiter oder Einzelpersönlichkeiten wie Max Beckmann, Karl Hofer und Willi Baumeister waren viele darunter, die heute kaum bekannt sind. Sie waren aber damals schon durch außerordentliche Kunstwerke aufgefallen, zumeist durch ihre Orientierung an der expressionistischen Formen- und Farbensprache. Die Diffamierung erfolgte, weil man in dieser Kunst Degenerationserscheinungen der „arischen Herrenrasse“ auszumachen glaubte. Hinzu kommt, dass zwei Drittel dieser Künstlergeneration praktisch ihr gesamtes Frühwerk verloren haben, durch Bomben, Flucht und Vertreibung.
Und nach dem Krieg?
Als das Interesse für Kunst langsam wieder erwachte, besann man sich zunächst auf jene mit den großen Namen und rückte sie in den Mittelpunkt. Wie differenziert die Kunstszene um 1933 gewesen war und wie viele junge Talente gerade dabei waren, bekannter zu werden, war aus dem Blick geraten. Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, schrieb 1953 in einem Brief an den Dichter Alfred Döblin: „Am Zerbrechen seiner geistigen Kontinuität wird Deutschland noch lange zu tragen haben.“
Expressiv-gegenständlich orientierten Künstlern gelang es in aller Regel weder im Westen noch im Osten Deutschlands kontinuierlich an ihr früheres Schaffen anzuknüpfen. In der DDR forderte man einen sozialistischen Realismus ein, der beim Aufbau eines neuen Staates helfen sollte. Mit ganz anderen Vorzeichen denkt man im Vergleich an die von den Nazis gehätschelte Blut- und Bodenkunst. Im Westen sah man in größtmöglicher Abstraktion, in ungegenständlicher Kunst, den angesagten Ausdruck von Freiheit. Zu einer Rückbesinnung kam es erst in den 1980er-Jahren.
Wer sich in der DDR dem sozialistischen Realismus verweigerte, wurde als Formalist abgestempelt. In Westdeutschland wiederum war Abstraktion gefragt und Figuratives verpönt. Auf beiden Seiten gab es Künstler, die sich dem System widersetzten. Wie unterscheiden sich deren Arbeiten?
Wenn es sich anbietet, hänge ich in Ausstellungen neben Kunstwerke aus der Bundesrepublik gerne solche, die in der DDR entstanden sind und nicht dem sozialistischen Realismus verpflichtet waren, sondern in der Tradition der expressiven Formensprache stehen. Da lassen sich keinerlei Unterschiede feststellen. Hier wie dort wurde auf einem vergleichbaren Niveau, in vergleichbarer Qualität gearbeitet. Es hat in Ost und West gerade im Bereich der Kunst viel mehr Gemeinsamkeiten gegeben, als man das vielleicht zunächst annehmen möchte.
Hatten diese Künstler in West und Ost Kontakt zueinander?
Es hat vereinzelt zumindest vom Westen zum Osten Kontakte gegeben, viel schwieriger war es andersherum. Es gab sogar die eine oder andere Freundschaft, zum Beispiel zwischen Otto Pankok, der an der Düsseldorfer Kunsthochschule lehrte, und Otto Nagel, der kurze Zeit Kultusminister in der DDR war. Diese Beziehungen rührten aber aus der Zeit vor 1933 oder aus der gemeinsamen Leidenszeit unter den Nazis. Westdeutsche Künstler, die nur gelegentlich Kontakte und nur vereinzelt gemeinsame Ausstellungen mit ihren ostdeutschen Kollegen suchten, gerieten auch leicht in den Verdacht, mit dem Kommunismus zu sympathisieren.
Sie zeigen einen Teil Ihrer Sammlung im Solinger Kunstmuseum. Dort soll ein „Zentrum für verfolgte Künste“ entstehen, mit Hilfe einer Bürgerstiftung und einer Fördergesellschaft, die sie beide initiiert haben. Wie steht es um das Projekt?
Die „Bürgerstiftung für verfemte Künste mit der Sammlung Gerhard Schneider“ will zusammen mit der Stiftung der „Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft“ und ihrer Literatursammlung, der ehemaligen Sammlung Jürgen Serke, ein „Zentrum für verfolgte Künste“ einrichten, und zwar unter maßgeblich finanzieller Beteiligung des Landschaftsverbandes Rheinland. Er hat die Stiftung bereits mit einem Anlagevermögen von zwei Millionen Euro ausgestattet. Im Sinne einer langfristigen Perspektive fordert der Landschaftsverband von der Stadt Solingen eine Garantie zum Bestand des Museums. Diese Zusage kann die Stadt Solingen jedoch aufgrund einer Intervention der Kommunalaufsicht derzeit nicht geben. Wohin die Reise geht, ist daher offen.