Am 27. Juni 2012 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen 5-spalter unter dem Titel „Zehn Bausteine für ein Museum des Exils". Die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft und das PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland schrieben einen Leserbrief in der bei der FAZ üblichen Forum „Briefe an die Herausgeber". Da dieser ein Leserbrief unter vielen sein dürfte, nimmt es nicht wunder, dass er nicht veröffentlicht wurde. Deshalb stellen wir diesen Leserbrief online auf unserer Homepage zur Diskussion.
Nachdem die Bundesrepublik Deutschland zwar die NS-Vergangenheit weitgehend aufgebarbeitet hat, vor allem dank der 68er Bewegung, hat sie versäumt, die widerständigen und exilierten Schriftsteller, Dichter, Musiker, Filmemacher, Schauspieler, Sänger, Komponisten, Architekten, Maler oder Architekten als eigene Opfergruppe anzuerkennen und im Gesetz zu bedenken. Dafür haben sich die ELS-Gesellschaft und der Exil-PEN immer wieder eingemischt, zu Wort gemeldet und seit nunmehr rund zwei Jahrzehnten ein „Zentrum für Verfolgte Künste" gefordert. Erst nach einer gemeinsamen Briefaktion, gerichtet an die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder, kam Bewegung in die bislang unterdrückte Debatte.
Vor allem, nachdem die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, von uns gebeten, einen eigenen Brief an Frau Merkel geschrieben hatte. Ihrer Reputation verdanken wir eine Reaktion. Doch die könnte nach hinten losgehen, denn der Kulturstaatsminister im Kanzleramt, Bernd Neumann, macht sich jetzt für eine Art Abteilung bei der deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt stark als „Museum des Exils". Das greift unserer Ansicht nach viel zu kurz – aus Rumänien oder der DDR kamen Herta Müller oder Wolf Biermann nicht ins Exil Westdeutschland.
Uns geht es um eine moderne, zeitgemäße Erinnerungskultur mit dem „Link" zur Gegenwart und Zukunft. Die erstarrten Gedenkrituale kommen bei der Jugend von heute nicht mehr an.
Brief an die Herausgeber:
FAZ
Frankfurt am Main
Leserbriefredaktion
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28.06.12
Konrad Merz hätte sich über den FAZ-Bericht vom 27. 6. 2012 gewundert. Denn der Brief, den Herta Müller der Bundeskanzlerin geschrieben hat, ist von der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft und dem PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland („Exil-PEN"), erbeten worden, was unerwähnt blieb. Wir hatten zudem gemeinsam an Angela Merkel geschrieben. Unterzeichnet u. a. von Udo Lindenberg, Iris Berben, Bazon Brock, Richard David Precht, Günther Uecker, Dieter Kosslick, Fritz Pleitgen und Albrecht Dümling von „musica reanimata".
Der „aus Deutschland gefallene" Konrad Merz hätte sich dagegen über die korrekten FAZ-Berichte vom 24. 6. 2011 („Erinnert ans Exil!") oder „Vergessenes Erbe Exil" (29. 2. 2012) gefreut, alle zum selben Thema: „Museum des Exils" oder, besser: „Deutsches Zentrum für Verfolgte Künste".
Die von Herta Müller erwähnten Tränen von Konrad Merz flossen vor 18 Jahren in Wuppertal. Dort hatte die spätere Nobelpreisträgerin den in Holland lebenden Schriftsteller kennengelernt: Beim Else Lasker-Schüler-Forum „Exil ohne Ende". Es war erst das zweite von inzwischen 18 solcher Foren. Doch schon damals, im September 1994, ging es um zeitgemäße Erinnerungspolitik abseits eingespielter Gedenkrituale. Und es ging um die vergessenen Künstler und anderen Intellektuellen im Exil. Eine Opfergruppe, die bis heute im Gesetz nicht berücksichtigt ist, wie eine Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags nach der Briefaktion bestätigt hat.
Nachdem die Briefe Wirkung zeigen, werden wir als Urheber bei den aus dem Neumann-Etat finanzierten Lösungen nicht einbezogen, obwohl lebende Mitglieder von uns Gegner und Opfer der NS-Diktatur und des DDR-Regimes waren wie Alfred Grosser, Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich, Ralph Giordano oder Georg Stefan Troller. Ihre Wünsche, ihr Rat, ihre Erfahrungen bleiben unberücksichtigt.
Es war eine Verbeugung der Lasker-Schüler-Gesellschaft vor der einzigen Schriftsteller-Organi- sation, die während der NS-Diktatur für das humane Deutschland und seine Kultur stand: Die Jubiläumsveranstaltung zum 60jährigen Bestehen des „Exil-PEN", der zuvor vom österreichische Staat aus selbigem Anlass in Wien geehrt worden war. Der deutsche Staat strafte mit Missachtung.
Bereits beim II. ELS-Forum 1994 spiegelten die Teilnehmer die Breite des Anliegens – Schriftsteller, bildende Künstler, Wissenschaftler, Liedermacher, die in den USA, Frankreich, Holland oder der Schweiz Asyl gefunden hatten und die in Wuppertal mit einem Dissidenten aus China als Zeitzeu- gen in Schulen waren, deren Lehrer über ein fernes Ereignis namens Holocaust und abstrakte Opferzahlen unterrichten.
Gekommen waren Menschen, die etwas erlebt und zu erzählen hatten.
Peter Fürst und Konrad Merz verabschiedeten sich 1994 in Wuppertal unabhängig voneinander fast wortgleich: „Wenn ihr es schafft, ein so aktives Zentrum der verfolgten Künste und anderen Intellektuellen zu gründen wie es dieses Forum war, dann vergesst uns bitte nicht. Schreibt unsere Namen auf eine Tafel im Eingang und lasst unsere Bücher für alle zugänglich ausliegen, aber lasst die Erinnerung an uns nicht in Archiven verstauben."
Den 1994 formulierten Aufruf für ein „Zentrum der Verfolgten Künste" haben neben Herta Müller rd. 50 Schriftsteller unterzeichnet, darunter Günter Grass, Yehuda Amichai und Uri Avnery sowie Salman Rushdie wegen unseres „Links zur Gegenwart", aktuell verfolgte Intellektuelle einzubezie- hen. Deshalb auch ist sehr früh ein Virtuelles Zentrum der verfolgten Künste eingerichtet worden mit inzwischen rd. 1.600 Biographien einst und heute verfolgter Künstler etc. Mit 2 Mio DM förderte Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn die pädagogische Website www.exil-club.de", die von Lehrern und Wissenschaftlern gelobt, von den Schülern begeistert angenommen wurde.
Trotz des stets ungewissen Ausgangs von Förderanträgen, haben die ELS-Gesellschaft und der „Exil-PEN" seit 20 Jahren gezeigt, wie ein Zentrum der verfolgten Künste arbeiten könnte. Wir haben Partner gefunden für ungewöhnliche Aktionen. Schirmherren und Teilnehmer bei 18 Foren waren u.a. Vaclav Havel, Shimon Peres, Mary Robinson, Ignatz Bubis, Lennart Meri, Lech Walesa, Hans Dietrich Genscher oder Wladyslaw Bartoszewsky. Sie alle begrüßten ein selbständiges „ Deutsches Zentrum für verfolgte Künste", das in Solingen weitgehend ehrenamtlich entstanden ist. Doch unabhängig vom Standort: Ein „Museum des Exils" greift zu kurz! Herta Müller und die rumäniendeutschen Schriftsteller gingen ebenso wenig ins Exil wie Reiner Kunze, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich oder Jürgen Fuchs. Sie kamen nach Deutschland. Im Exil war auch nicht die im KZ umgekommene Else Ury.
Kulturstaatsminister Neumann hat am 25.10. 2011 im Centrum Judaicum verkündet: „So könnte die Deutsche Nationalbibliothek – auch unter Einbeziehung ihres Musikarchivs – zu einem Zentrum der Künstler im Exil werden, das seinerseits auf die anderen Stätten des Gedenkens und Erinnerns verweist." Ein „Zentrum der Verfolgten Künste" - so hat er durch eine Delegation in Solingen erklären lassen - werde dagegen keine institutionelle Förderung erhalten. Der Politiker ignoriert, dass die gängigen Formen des Erinnerns an NS-Zeit und Holocaust bei Lehrern und Wissenschaftlern längst Unbehagen auslöst und bei den Schülern Desinteresse. Das heikelste Thema der deutschen Zeitgeschichte bedarf neuer Formen der Erinnerung.
Mit der jetzigen Initiative enteignet Bernd Neumann nicht nur unsere Ideen, sondern erfüllt die Befürchtungen von K. Merz und P. Fürst: Er verweist die einstigen Exilanten, die Besten der deutschen und damit europäischen Kultur, ins museale Exil. Was jedoch den Heimatvertriebenen - denen Unrecht geschehen ist, die aber stillgehalten oder Heil Hitler geschrien haben - recht ist, muss unseren verfolgten Künstlern billig sein. Die wahre Vertreibung hat 1933 begonnen.
i.A. Hajo Jahn
Vorsitzender Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft und – Stiftung f. ein Zentrum der verfolgten Künste,
Wuppertal, Herzogstr. 42
Günter Kunert
Präsident PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland („Exil-PEN)