Auf neuer, zuverlässiger Grundlage

Johannes Barth

Zum Abschluss der Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers

Mit dem im Frühjahr 2010 erschienenen 11. Band konnte die Kritische Ausgabe der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers nach rund 15 Jahren abgeschlossen werden – ein bemerkenswert kurzer Zeitraum, wenn man bedenkt, wie umfangreich allein die für eine solche wissenschaftliche Gesamtausgabe notwendigen Vorarbeiten sind: Sämtliche erreichbaren Manuskripte Else Lasker-Schülers sowie alle zeitgenössischen Drucke ihrer Werke in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften mussten ermittelt, in Kopie zusammengetragen und gesichtet werden. Erschwerend wirkte in diesem Fall, dass der Nachlass der Dichterin, deren Tod im Jahr 1945 beim Beginn der Arbeiten an der Ausgabe erst ein knappes halbes Jahrhundert zurücklag, trotz wertvoller Vorarbeiten vor allem durch die Wissenschaftlerin Margarete Kupper zu dieser Zeit noch weit weniger bekannt und erschlossen war, als man es etwa von Autoren aus dem 18. oder 19. Jahrhundert gewöhnt ist. Hinzu kam das unstete Leben, in das die Zeitumstände die deutsch-jüdische Künstlerin gezwungen hatten: 1933 musste Else Lasker-Schüler zunächst in die Schweiz ins Exil fliehen; 1939 konnte sie von einer Reise nach Palästina nicht mehr nach Europa zurückkehren. Auch viele ihrer Freunde und Bekannten mussten nach Beginn der Naziherrschaft emigrieren. So sind die Handschriften der Dichterin, zumal ihre zahlreichen Briefe, buchstäblich in alle Welt zerstreut; viele befinden sich in Privatbesitz.

Dass der Bedeutung Else Lasker-Schülers, die kein Geringerer als ihr Freund Gottfried Benn postum als die „größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte" würdigte und die längst als eine der wichtigsten deutsch-jüdischen Dichterinnen anerkannt war, eine wissenschaftlich zuverlässige Gesamtausgabe angemessen ist, war stets unbestritten. Die bis dahin umfangreichste Edition, die Friedhelm Kemp, in den 1930er Jahren übrigens selbst ein Korrespondenzpartner Else Lasker-Schülers, von 1959 bis 1962 im Kösel-Verlag (München) herausgegeben hatte, konnte solchen Ansprüchen nicht genügen, da, wie es in der Nachbemerkung hieß, „in der Regel die Abdrucke in Zeitungen, Zeitschriften und zeitgenössischen Anthologien" unberücksichtigt blieben; aus den zahlreichen im Nachlass erhaltenen, zu Lebzeiten unpublizierten Texten bot der von Werner Kraft bearbeitete 3. Band der Ausgabe lediglich eine kleine Auswahl.

Die Erstellung einer kritischen Gesamtausgabe war ein Projekt, das nicht nur große Fachkenntnis, sondern auch Zeit, Mühe und Geld erforderte. Zur Bewältigung dieser Aufgabe schlossen sich in den 1990er Jahren das Franz Rosenzweig-Zentrum der Hebräischen Universität Jerusalem, die Bergische Universität Wuppertal und das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar zusammen. Als Herausgeber der Ausgabe, die im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag (früher Frankfurt a.M., jetzt Berlin) erschien, fungierten Norbert Oellers (Bonn), Heinz Rölleke (Wuppertal) und Itta Shedletzky (Jerusalem); ab Band 9 (2008) kam noch Andreas B. Kilcher (Zürich) hinzu. Zur redaktionellen Koordinierung der editorischen Arbeiten wurde eine Arbeitsstelle an der Bergischen Universität in Else Lasker-Schülers Heimatstadt Wuppertal eingerichtet, die nacheinander von Ulrike Marquardt, Ricarda Dick und schließlich Johannes Barth und Stefan Neumann geleitet wurde. Hier wurden, in Zusammenarbeit mit Institutionen wie vor allem der Jewish National and University Library in Jerusalem, die das Nachlassarchiv Else Lasker-Schülers beherbergt, dem Else Lasker-Schüler-Archiv der Stadtbibliothek Wuppertal und dem Deutschen Literaturarchiv, die Handschriften, Briefe und Drucke ermittelt und zusammengetragen.

Ein Merkmal des Schaffens von Else Lasker-Schüler war von jeher die häufige Umarbeitung ihrer Texte, wie bereits ein Brief ihres Mentors Peter Hille vom 9. Dezember 1901 belegt, der von dem für sie charakteristischen „Feilen" spricht. Die Kritische Ausgabe trägt dem Rechnung, indem sie die Werktexte nach der Erstveröffentlichung abdruckt, die Abweichungen in späteren Drucken oder überlieferten Handschriften aber sorgfältig in Variantenverzeichnissen im Anmerkungsteil dokumentiert. Im Falle tiefgreifenderer Umarbeitungen wird die spätere Fassung auch vollständig abgedruckt. Dieses Verfahren bewährte sich nicht zuletzt im 1996 erschienenen 1. Band der Ausgabe, der sinnvollerweise der Lyrik gewidmet ist, die von jeher als bedeutendster Teil des Schaffens Else Lasker-Schülers galt. Neben den Gedichtsammlungen „Styx" (erschienen Ende 1901, datiert auf 1902), „Der siebente Tag" (1905), „Hebräische Balladen" (Ende 1912, datiert auf 1913) und „Mein blaues Klavier" (1943) werden in der von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers besorgten Edition in chronologischer Reihenfolge auch die außerhalb dieser Bücher erschienenen Texte abgedruckt. Insgesamt enthält der Band 506 Gedichte, davon 100 bis dahin größtenteils unbekannte Werke aus dem Nachlass. Die Anmerkungen, die in einem eigenen Teilband erschienen, bieten neben den Variantenverzeichnissen und Erläuterungen eine vollständige Übersicht der Gedichtveröffentlichungen Else Lasker-Schülers in eigenen Büchern sowie in Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften und eine Konkordanz der in den Gedichten vorkommenden Wörter.

1997 folgte der von Georg-Michael Schulz bearbeitete 2. Band der Ausgabe, der die drei Dramen „Die Wupper" (1909), „Arthur Aronymus und seine Väter" (1932) sowie „IchundIch" enthält. Das letztgenannte Stück wurde von Else Lasker-Schüler selbst nicht veröffentlicht und war erst 1970 durch Margarete Kupper aus dem Nachlass vollständig ediert worden. Das Variantenverzeichnis der Kritischen Ausgabe dokumentiert hier die zahlreichen Änderungen, die die Verfasserin in dem Typoskript vornahm, in dem das Drama überliefert ist. Mit den Bänden 3 (1998; bearbeitet von Ricarda Dick) und 4 (2001; bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky) wandte sich die Ausgabe einem bis dahin gegenüber der Lyrik und dem erfolgreichsten Schauspiel „Die Wupper" oft etwas vernachlässigten, aber nicht minder interessanten Teil von Else Lasker-Schülers Œuvre zu: ihren größeren und kleineren Prosatexten. Wie bei den Gedichten werden auch hier neben den selbständigen Buchveröffentlichungen wie „Das Peter Hille-Buch" (1906), „Die Nächte Tino von Bagdads" (1907) oder „Der Wunderrabbiner von Barcelona" (1921) in chronologischer Reihenfolge alle andernorts publizierten Texte sowie in Band 4 auf knapp 200 Seiten die „Prosa aus dem Nachlass" abgedruckt. Getreu den Editionsprinzipien der Ausgabe enthält Band 3 die von 1911 bis 1912 in der Zeitschrift „Der Sturm" erschienenen „Briefe nach Norwegen", nicht jedoch die berühmtere spätere Buchversion „Mein Herz"; hingegen wird neben den zwischen 1913 und 1917 als „Briefe und Bilder" und unter anderen Titeln veröffentlichten Texten auch deren erweiterte Buchfassung „Der Malik" von 1919 abgedruckt, da sie als eigenes Werk anzusehen ist. Die Anmerkungsteile mit der akribischen Dokumentation der Textgeschichte sind auch in diesen Fällen so umfangreich, dass sie als Teilbände erschienen.

Das wichtigste Prosawerk aus Else Lasker-Schülers Exilzeit, „Das Hebräerland" (1937), das Eindrücke ihrer ersten Palästinareise aus dem Jahr 1934 verarbeitet und poetisiert, wurde in einem eigenen 5. Band der Ausgabe geboten, da 1995 in Zürich ein Koffer mit Manuskripten der Dichterin entdeckt worden war, der das überlieferte handschriftliche Material zu diesem Werk auf rund 1000 Seiten verdoppelte. Die Bearbeiter Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky konnten daher 2002 neben dem von Else Lasker-Schüler veröffentlichten Text des „Hebräerlandes" noch einen mit über 300 Druckseiten etwa doppelt so langen Teil mit 16 Entwürfen bieten, was auch darum von großem Interesse ist, weil der Schaffensprozess bei keinem anderen Werk der Autorin so gründlich dokumentiert werden kann.

Mit diesen binnen sechs Jahren erschienenen fünf Bänden lag das dichterische Werk Else Lasker-Schülers erstmals vollständig und in zuverlässiger Textgestalt vor. Es blieb jedoch noch die nicht minder anspruchsvolle Aufgabe der Edition ihrer Briefe. Else Lasker-Schüler war zeitlebens eine große und unermüdliche Briefschreiberin. Vor Erscheinen der Kritischen Ausgabe war erst ein relativ kleiner Teil dieser Schreiben veröffentlicht worden, so 1969 in einer zweibändigen Auswahl von Margarete Kupper. Die Briefe sind aber nicht zuletzt deshalb höchst bedeutsam, weil es sich hier um zuverlässige biografische Quellen handelt, mit denen der in der neueren Forschung, etwa bei Sigrid Bauschinger und Jakob Hessing, zunehmend thematisierten problematischen Legendenbildung um Person und Leben Else Lasker-Schülers, die von der Dichterin selbst begonnen wurde, entgegengewirkt werden kann. Auch stehen die Briefe in enger Beziehung zum dichterischen Werk, wie etwa die Verwendung von dorther bekannter Ich-Figurationen der Künstlerin wie Prinz Jussuf oder Tino zeigt.

Die Ermittlung und Ordnung der Briefe Else Lasker-Schülers erforderte in besonderem Maße aufwendige philologische Detektivarbeit, so etwa auch, um den Entstehungszeitpunkt der zahlreichen undatierten Schreiben zu bestimmen. Nicht zuletzt bereitete die Entzifferung der Handschrift Else Lasker-Schülers zumal bei den Postkarten, auf denen oft Zusätze noch in die kleinste Ecke gequetscht sind, beträchtliche Schwierigkeiten. Die Briefe erschienen schließlich in unmittelbarem Anschluss an die Edition der poetischen Werke ab 2003 in sechs chronologisch geordneten Bänden, wobei Band 6 bis 8, die die Briefe bis zur Flucht der Dichterin aus Deutschland im April 1933 abdrucken, Ulrike Marquardt (Band 6: 1893-1913), Karl Jürgen Skrodzki (Band 7: 1914-1924) und Sigrid Bauschinger (Band 8: 1925-1933) edierten, während die verbleibenden drei Bände mit dem umfangreichen Briefmaterial aus der Exilzeit 1933 bis 1945, nach Vorarbeiten von Alfred Bodenheimer, durch Karl Jürgen Skrodzki, ab Band 10 (1937-1940) gemeinsam mit Andreas B. Kilcher, bearbeitet wurden. Insgesamt enthalten die sechs Bände über 4000 Briefe Else Lasker-Schülers. Sinnvollerweise sieht die Ausgabe davon ab, die Binnenvarianz der einzelnen Briefe, also Streichungen und Zusätze durch die Verfasserin, in einem Variantenverzeichnis zu dokumentieren, da dies in den meisten Fällen nichts zum Verständnis der Texte beigetragen hätte. Hingegen sind gerade bei den Briefen die Erläuterungen von Bedeutung, die etwa die für den Leser oft unverständlichen Anspielungen auf biografische oder zeitgeschichtlichte Ereignisse erschließen und durch ein kommentiertes Personen- sowie ein Werkregister, in den meisten Bänden auch durch ein Zeitschriften- und Zeitungenregister ergänzt werden. Dass die Ermittlung von Briefen Else Lasker-Schülers ein work in progress bleibt, wird auch dadurch deutlich, dass der letzte Band neben 689 von 1941 bis 1945 entstandenen Briefen noch 201 Nachträge zu den vorangehenden Briefbänden enthält; bereits in den wenigen Monaten seit Abschluss der Ausgabe ist wieder eine Reihe von weiteren Briefen gefunden worden.

Insgesamt ermöglicht die Kritische Ausgabe sowohl Wissenschaftlern als auch einem breiteren an Else Lasker-Schüler interessierten Leserkreis, diese Dichterin buchstäblich neu zu entdecken; zumal die Briefbände enthalten eine Fülle von neuen Erkenntnissen zu ihrer Biografie. Bedauerlicherweise ist jedoch ein nicht unwesentlicher Teil des künstlerischen Schaffens Else Lasker-Schülers, nämlich ihr grafisches Werk, in der Kritischen Ausgabe nicht enthalten. Allerdings sind in der Edition der Prosaschriften auch die in Werken wie den „Briefen nach Norwegen", „Der Malik" und „Das Hebräerland" zu findenden Bilder reproduziert, wodurch in diesen Fällen die für Else Lasker-Schüler charakteristische Integration von Text und Grafik anschaulich gemacht wird. Hingegen werden in den Briefbänden die zahlreichen Zeichnungen, die Else Lasker-Schüler in ihre Briefe einfügte, leider nicht mit abgedruckt, sondern lediglich durch Herausgeberzusätze in Winkelklammern beschrieben. Außerhalb der Kritischen Ausgabe hat jetzt deren Mitarbeiterin Ricarda Dick ein illustriertes Verzeichnis des gesamten grafischen Werks in einem im Jüdischen Verlag erschienenen Katalog vorgelegt, der eine von ihr organisierte Ausstellung begleitet.

Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass mit dem Abschluss der Kritischen Ausgabe die wissenschaftliche und editorische Beschäftigung mit Else Lasker-Schüler natürlich keineswegs beendet ist; vielmehr sind nun erst die Voraussetzungen geschaffen, um Leben und Werk dieser bedeutenden Dichterin der Klassischen Moderne auf neuer, zuverlässiger Grundlage zu erforschen. Eine wesentliche Aufgabe wird dabei die Erweiterung und Vertiefung der Erkenntnisse zu Biografie und Wirkung jenseits der „Lasker-Schüler-Legende" sein. Die Else Lasker-Schüler-Arbeitsstelle an der Bergischen Universität Wuppertal bereitet derzeit eine Edition der Briefe an die Dichterin vor, die die in der Kritischen Ausgabe enthaltenen Briefe von Else Lasker-Schüler ergänzen und noch deutlicher als Teil eines Briefwechsels sichtbar machen soll. Weitere Projekte zur zeitgenössischen Rezeption Else Lasker-Schülers und ihres Schaffens sind geplant. Man kann daher zuversichtlich sein, dass das Interesse an dieser Künstlerin auch im 21. Jahrhundert keinesfalls nachlassen wird, was nicht zuletzt das Verdienst der Kritischen Ausgabe ist.

Johannes Barth

Geboren 1964 in Wuppertal. Studium der Germanistik, Philosophie und Allgemeinen Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität. Promotion 1993, Habilitation 2003. Privatdozent an der Bergischen Universität, seit 2005 Redakteur der Else Lasker-Schüler-Arbeitsstelle.

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