Am 16. Juni 2012 las Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller auf Einladung der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft im Rahmen der ersten Wuppertaler Literatur-Biennale in der bis auf den letzten Platz gefüllten Immanuelskirche aus ihren Werken. Moderiert wurde die Lesung von dem langjährigen literarischen Wegbegleiter (auch aus rumänischen Zeiten) Ernest Wichner, Leiter des Literaturhauses Berlin. Über Ernest Wichner sagt Herta Müller „dass wohl niemand mein Werk so gut kennt wie er“. Die sehr sensibel aufeinander abgestimmten Gespräche und Lesungen enthüllten, wie Menschen in Diktaturen wie dem Ceausescu-Regime Rumäniens sich selbst entfremdet werden. Zugleich zeigte die Lesung aber auch, wie Literatur zum Überlebensmittel in Zeiten des geistigen und seelischen Terrors werden kann.
Luisa Altergott, die gerade an Gesamtschule Else Lasker-Schüler ihr Abitur gemacht hat, war bei Lesung dabei. In einem literarischen Text verarbeitet sie den eigenen rezeptionsästhetischen Prozess und kommt gerade dadurch der verstörenden und betörenden Schönheit der Erzählweise Herta Müller auf die Spur.
Bevor Herta Müller in Wuppertal las, besuchte sie in Solingen das Deutsche Zentrum für Verfolgte Künste. Links Ernstz Wichner, rechts Museumsdirektor Dr. Rolf Jessewitsch im nachgebauten „Romanischen Café".
von Luisa Altergott
Heute ist der 16.06.2012, ich sage es, damit ich es nicht vergesse. Heute ist Samstag, ich sitze in einer Kirche, mit hohen Decken und schlichter Verzierung, aber die Schlichtheit steht dem Raum.
Die meisten Plätze sind verlassen, der Raum hat sich ebenso schnell geleert, wie er sich vor knapp zwei Stunden gefüllt hatte, eine lange Schlange hat sich vorne gebildet. Ich sehe Bücher in jeden Händen und sehe wie sie unterschreibt.
Herta Müller.. Nobelpreisträgerin. Talent bedarf keiner Preise, aber manchmal bedarf es Preise, um Talent erkennbar zu machen.
Im Geiste umfliegen mich Gedanken, ich habe mich immer noch nicht von dem hier Gehörten gelöst, die Befangenheit will nicht von mir weichen.
Fast ist mir, als schließe ich die Augen, ich schließe sie und höre etwas in mir leise flüstern. Unzählige Szenen werden von neuem aufgegriffen aus den Romanen „Niederungen“ „Herztier“, „Atemschaukel“.. Bücher, die den Zuhörer sanft in ihren Bann zogen.
Auch mich hat der Bann erfasst und lässt die Szenen des Abends vor meinen Augen zu Bildern werden, die sich zu Wellen zusammenschließen und zu Wind und Blättern und mich ins Unbekannte ziehen, wo ich nicht Ich bin, wo niemand Ich ist, wo der Leser und der Erzähler und das Erzählte zusammenfallen.
So sind es nicht meine Szenen und auch nicht meine Geschichten. Es sind Figuren, Schatten erzählter Worte, aber hier und jetzt sind sie ein Teil von mir.
Ich sehe die kleinen Mäuse neben dem Kissen auf dem Bett, ihre rosige Haut, die kaum gelernt hat zu atmen. Ich sehe ihn, den Deportierten, den zu Zwangsarbeit in einem Arbeitslager in der Ukraine Verurteilten, ich sehe ihn, wie er die Mäuse in seinem Bett entdeckt. Etwas, das ist und lebt – inmitten einer feindlichen Umwelt, die den Menschen in uns töten will. Ich fühle, wie er sich leise freut und sich umschaut und denkt auserwählt worden zu sein. Ich fühle die Liebe dieser Figur, die ein Schatten aus einer Geschichte ist und ein Teil von mir, vor allem fühle ich aber, dass er ein junger Mann ist, der ein Kind zu sein wünscht und beinah ein Kind zu sein glaubt und dass er nun mit einem Augenblick begreift, dass diese Mäuse bald fressen müssen und dass es hier für sie hier, wo schon die Menschen hungern, nichts zu fressen geben wird. Er versteht, dass er diese Mäuse nicht behalten kann. Und es schmerzt, auch wenn es ein stiller Schmerz ist, ein vermummter. Und sogleich bin ich das Kind, das er zu sein wünscht, seine Gedanken werden zu meinen, diese Mäuse können und dürfen nicht leben. Ich fühle die Kleinen, wie ich sie trage, etwas hat mich stumm gemacht, ich trage sie und lasse los und versuche nicht daran zu denken, wohin sie fallen, und beinahe sehe ich es doch.
Ein anderes Bild, umschattet, ergreift sodann Besitz von mir. Ich sehe das Kätzchen, das der Gefangene, als er noch ein Kind war, in die Ecke getrieben hat und wie es nach dem Fremden faucht. Ich fühle, wie das Herz der Fremden sich für einen Augenblick zusammenzieht und ich sehe die ausgestreckte Hand und wie seine Zähnchen sich in sein Fleisch bohren und nicht loslassen. Ein leiser Stich durchfährt mich, mich, die ich zur Fremden werde, zu Worten auf Papier. Ich bin nicht die Figur, und dennoch sind es beinah meine Finger, die sich um den kleinen Hals schließen und zudrücken. Es sind nur Augenblicke, bloß Sekunden, in denen ich nicht anders kann und mich Bitterkeit umschließt. Und dann ist es auch schon zu spät. Wenn man geben will und wird gebissen … die wahre Wunde ist dann nicht zusehen. Doch wie viel ist die Liebe wert, wenn sie den anderen nicht erreicht und kann es gar zu viel der Liebe geben? Vor allem wenn man gar nicht weiß, was Liebe ist und gar nicht weiß, was man bewirken kann …
Das Bild verblasst, ein anderes drängt sich mir auf. Ich sehe, wie die alte Russin die Suppe auf den Tisch stellt und wie der Gefangene, der ich bin und doch nicht bin, die Suppe verschlingt. Ich sehe die zwei Hühner auf dem Stuhl. Ich sehe den Sohn der alten Russin, der in der Fremde ist. Ich sehe, wie er unwohl auf dem Stuhl verharrt, wie er fühlt zwei Personen in einem zu sein und es ihn zerreißt, da schon er selbst zu sein zu viel ist. Ich sehe wie die alte Russin ihr das Taschentuch reicht, das einem Schatz gleich entgegen genommen wird. Ich sehe, wie er fühlt, dass es zu viel ist. Ich sehe das Huhn, das auf dem Rückweg an ihm vorbei läuft. Ich sehe ihn, der nun mit seiner Umgebung verschmilzt, ein Zaun ist, ein Schatten, ein Gegenstand. Die Schönheit, die das Taschentuch birgt, schmerzt in den Augen, es macht bewusst, welch Hässlichkeit einen umgibt. Doch zugleich ist es die Naht, die einen an die Hoffnung bindet.
Ich habe das Bild der Großmutter vor mir, die sagt, dass man zurückkehrt, dann klammert sich die Hand erneut an das Taschentuch, sacht, weil es zu kostbar ist. Und ich fühle das leise Versprechen, dass dieses Taschentuch meine Zukunft ist und mein Schicksal.
Ich sehe die Frau, die am Telefon steht und lautlos schluckt, doch laut genug, dass sie ertappt zu sein glaubt, mit einer Hand geht sie über ihren Hals und senkt für einen Augenblick den Kopf. Ihr Blick huscht zur Seite, fällt auf zerrissene Briefumschläge und neueingegangene Post. Eine Sekunde lang stockt ihr der Atem, sie braucht den Inhalt gar nicht erst zu lesen. Fast hört sie die Drohbriefe leise lachen, als hätten sie gewonnen. Am Ohr hängt immer noch der Hörer, doch sie vernimmt nichts mehr. Ihre Freundin kommt. Weshalb, warum, fragt der Verstand, und wie? Doch das Herz hat Klebeband und hört es nicht.
Ich sehe, wie sie kommt und sie ihr glauben will. Auch als sie sagt, sie wurde hergeschickt und dass sie sie nicht verrät. Sie will ihr glauben und sie tut es nicht. Und weil sie es nicht tut, schließt sie die Augen. Die Hände krallen sich nach Halt, meine Hände, ihre Hände, ich bin sie und sie ist ich. Dingen, denen ich mich nicht stelle, die gibt es nicht. Also lasse ich sie alleine. Vor dem Auge ziehen sich Fäden zu einem Band zusammen, die Fäden reißen, fügen sich zusammen, greifen ineinander. Und sodann zerfließt das Band aus in Bilder aus Farben, die darauf beharren nicht nur Erinnerungen zu sein. Ich sehe den Schlüssel, mein Herz vergisst für einen Augenblick zu schlagen, meine Beine stolpern zu der Tür, der Schlüssel passt. Eine Mauer hat sich aufgebaut. Ich lasse sie den Koffer packen, wir stehen da und sehen uns nicht an. Sie will bleiben, auch ich will, dass sie bleibt und dennoch muss sie gehen. Sie weint nicht, der Kopf steht wie auf Steinen, auf den Lippen brennen Worte und sie schweigt. Auch sie versteht, dass Worte hier nichts mehr bedeuten. Sie geht, ich schicke sie zurück und schicke ein Stück von mir mit ihr und ein Stück von ihr bleibt hier zurück.
Ich sehe Bilder um Bilder in mir schwören. Bilder, die ich nur sehen, doch nicht beschreiben will. Ich sehe ein Leben, das nicht meines ist und das sich meiner Vorstellung beinah ganz entzieht. Ich kenne nicht das Gefühl, in einem Dorf erdrückt zu werden. Einen Staat, der Bücher zu Feinden erklärt, einen Staat, der Andersdenkende fürchtet und entsorgt. Es lebt, atmet und wächst, ein Ungeheuer, das sich in Kleider fremder Freiheit zwängt und das Unrecht zum Gesetz sich macht. Es lebt, aber ich kenne es nicht.
Es ist ein Bild, das in mir erwächst, wie die Bilder der erzählten Geschichten. Es bleibt meiner Vorstellung überlassen, was ich denke. Und Vorstellen heißt nicht Erleben, Vorstellen heißt nicht Verstehen, aber es heißt, verstehen zu wollen und nichts anderes zählt, die Alternative ist Augen schließen.
Herta Müller. Lesen. Schreiben. Menschen die Wahrheit aufzuzeigen, die eigene Wahrheit, sodass sie im Geiste eines jeden zu neuer Wahrheit münden kann.
Die Autogrammstunde neigt sich dem Ende, ich nenne meinen Namen und schaue zu, wie sie unterschreibt. Im Grunde ist sie für mich eine Fremde, und dennoch empfinde ich es nicht so. Ich fühle nur die Bilder.
Buchstaben erheben sich zu Wellen, Wasser, das mit sanfter Entschlossenheit auf Felsen prallt, auf Stein der Jahrhunderte und zerschellt. Giganten aus Stein ragen aus kalter Erde hervor und türmen sich zu Riesen, doch den Wellen wachsen Flügel und aus Wasser werden Diamanten. Kein Stein kann Wasser je bezwingen und niemals beugt es sich Giganten.
Es sind nicht bloße Worte auf Papier.