Zwanzig Jahre Mauerfall und zwanzig Jahre Einheit werfen ihre Schatten voraus – der Reigen anstehender Publikationen wird sich kaum überschauen lassen. Ein interessantes Buch legt gleich zu Beginn jemand vor, der oft nur als politischer Dissident wahrgenommen wird. Trotz zweier erfolgreicher Prosabände, seines Bestsellers "Ost-Berlin"(mit Photos von Harald Hauswald) und sechs lieferbarer Bilderbücher, von denen "Im Land des Kohls"sich an ein erwachsenes Publikum wendet.
Viele kennen den Namen des Berliner Autors aus Jena auch durch Rundfunkglossen oder Zeitungskommentare. Dier neuen Gedichte in "Gelächter, sortiert" sollten ein Anlass sein, die Wahrnehmung Lutz Rathenows zu ändern. Sie unterhalten mit fast romantischen Reflexionen: "Handys an einem frühen Winterabend / funken ihr kleines Licht / in die Augen der jungen Frauen, / Männer. Verirrte Sterne / wandern über den dunklen weiten Platz." Dann werden sie vieldeutig provokant, wenn eine freundliche Betrachtung zur amerikanischen Golden Gate-Bridge so endet: "The American dream. Überall die Netze / fangen den nicht ein: sieben jeden Monat / stürzen sich von hier hinab und fliegen./ Alle schauen Richtung Stadt, das Sterben / als Gebet." Ist das nun Kritik an den USA? Oder besser so zu sterben als à la DDR, die sich in den achtziger Jahre durch die höchste Selbstmordrate auszeichnete?
Erstaunlich, weil versteckt, tauchen oft religiöse Motive bei Rathenow auf, der über des Lebens Sinn sinniert und dabei zugleich ins Spotten und zu pathetisch angehauchten Zeilen gerät. Erotisch angeregte mitunter, in verschiedenen Konstellationen übrigens – in einem Gedicht streichelt der eine die Partnerin. Und der Text klingt aus und nach: "Blindenschrift – offenen Auges / ertasten wir das Alphabet." Gilt das nicht für unser ganzes Leben?
Unter dem nietzscheanisch anmutenden Titel sind die Texte in blauem Leinen versammelt, in der neuen Edition namens "Die 1000" im lyrikbewährten Verlag Ralf Liebe. Auf zweifache Weise spiegeln verlegerische Aspekte die deutsche Einheit wieder: Einmal durch den westdeutschen Verlagsort, zum anderen durch den leicht reißenden edelbedruckten Schutzumschlag und die unscharfe Titelmarkierung auf dem Buchrücken, die unfreiwillig an Tücken der DDR- Produktion erinnern. Die DDR hat der Autor überwunden, er ist in der Gegenwart angekommen, ohne selbstzufrieden zu sein. Deshalb ist es auch ein Vereinigungsbuch: Texte vom Anfang der Neunziger Jahre werden mit ganz Gegenwärtigem vereint. Dementsprechend kommt dann doch das Leben jenseits der gefallenen Mauer in den Blick, in brillanter Distanz. So korrespondiert in "Gerüche" der Duft des Westens mit dem Blut eines Minenopfers an der DDR-Grenze. Aber genauso wichtig scheint Rathenow der Ausdruck metaphysischer Obdachlosigkeitzu sein, wenn er seinem "Sprayer" beschreibt – eine Betrachtung, die so im Englischen (durch die Differenz von heaven und sky) gar nicht möglich wäre: "Und wieder taggen Wolken den Himmel. / Wie immer säubert ihn kurz der Wind. / Und Menschen tätowieren die Stadt." Lebensnah und gekonnt legt Rathenow nach seinem Erstling "Zangengeburt" (1982) nun mindestens einen zweiten bedeutenden Lyrikband vor.
Lutz Rathenow: Gelächter, sortiert. Edition Die 1000. Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2009. ISBN 978-3-935221-59-7.