Norbert Sternmut, Nachtlichter
(Pop-Verlag, Ludwigsburg 2010) 103 S., 14,30 Euro
Rezension von Karl-Heinz Schreiber, Literaturzeitschrift „KULT“
„Ich weiß, / Ich entkomme aus mir. / Aus dieser Stimme, dieser Haut. / Diesem Wunsch nach Einigkeit.“
Mit diesen Zeilen auf der Rückseite präsentiert uns Sternmut seinen neuen Lyrikband und das immer wieder (nicht nur) in der modernen Literatur virulente Problem der Identität bzw. der Integrität einer sich selbst bewussten Persönlichkeit. Schon die Behauptung „Ich weiß ist kühn, denn sie etabliert ein „Ich“ (dessen Existenz ja in der modernen Philosophie / Psychologie / Hirnforschung umstritten ist), wie es an Sokrates und Descartes mahnt.
Dann heißt es wohlweislich nicht „ich komme“, sondern „ich entkomme aus mir“ – eventuell doch eine sprachlich riskante Doppeldeutigkeit?!
Die Modellvorstellung ist ja ebenso unvermeidlich wie absurd: um sich zu entfliehen, muss man erst existieren. Versteckt ist hier auch die Frage nach dem Sein-Wollen. Mit der „Stimme“ und der „Haut“ werden relative Äußerlichkeiten einer Identität benannt. Die „Einigkeit“ kann als Voraussetzung und als Zielvorstellung gelten: ich brauche sie, um mich mit mir aus-ein-ander-zu-setzen. Identitätsfindung (Identitätsfahndung?) ist eben ein dialektischer Vorgang: These (Ich weiß“) – Antithese („entkomme“) -Synthese („Wunsch nach Einigkeit“). Dieser Prozess ist hier kurz und prägnant wie selten in (noch dazu) lyrische Worte gefasst.
Nun könnte man obige Zeilen noch weiter bedenken und analysieren – allerdings muss man einen Lyrikband auch erst einmal komplett durchlesen mit großzügiger Aufmerksamkeit, um zu sortieren nach Texten mit unterschiedlichem sprachlichem, thematischem und existentiellem Tiefgang. Die Kunst besteht ja immer darin, etwas Innerliches mit etwas Äußerlichem auszusagen, etwas Allgemeingültiges durch etwas Besonderes – und das in einer jeweils eigenen Sprache.
Und da sind wir eben bei Sternmut richtig, er weiß um den „sonderbaren / Grenzverlauf der Hirnhälften“, er bewegt sich im „Sumpfgebiet meiner Ahnung“, er findet das Wesen einer Angelegenheit „in sich mit anderen Worten“. Und schließlich die erschreckende Erkenntnis: „Nichts ist wahr wie es ist.“ Und der „Samenstrahl der Sprache“ ist ausgeliefert dem „Waffenblick der Wirklichkeit“. Es hilft nur die „Selbstmutmachung“ während wir den „Sekundentanz des Bewusstseins“ erleiden im „Dschungel der Vorstellung“. Und immer müssen wir so tun, „als gäbe es Aussicht / auf Wirklichkeit“, als sei „die innere Welt ausgelotet“, aber „das eigene Ich / die innere Verwerfung“ bringt uns bestenfalls in „Nichtsnichts des Gesprächs“. Da existieren wir in der Kommunikation mit dem Universum am Vereinigungspunkt von Raum und Zeit – und da passieren die unwichtigsten und die wichtigsten Dinge gleichzeitig: „Der Salamander fiel in ein Wasserloch / Und ertrankt, / Während eine Erdkröte gerettet wurde, / Einen Tag zuvor in Kalifornien.“
Und wieder einmal geht es um den Tod und die Liebe und die poetische Flucht aus der Melancholie. Und irgendwie wird die Vorstellung einer Endgültigkeit auch schon wieder komisch, wenn es heißt: „Der Tod ist das Ende vom Tod.“ So eine Formulierung dreht sich ebenso wirr in unserem Hirn wie die Aussage „Ich lüge“ – aber die Wahrheit ist ja eben das Gipfelkreuz des Sisyphos.