(„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Fritz Bauer, Exilant und späterer Generalstaatsanwalt in Hessen)
Wuppertal war am 23. November 1990 Gründungsort der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft. Absicht ist es, das literarische und künstlerische Werk der 1869 in (Wuppertal)-Elberfeld geborenen, während der Nazizeit verfolgten und 1945 in Jerusalem gestorbenen Schriftstellerin zu pflegen und als wichtigen Beitrag zur deutsch-jüdischen Kultur lebendig zu erhalten. Ziel ist ein „Zentrum für verfolgte Künste“.
Diese weltweit einzigartige Einrichtung ist inzwischen im Kunstmuseum Solingen realisiert: Mit einer Exil-Literatursammlung und der Bilder-„Sammlung Gerhard Schneider“.
Das bereits seit einigen Jahren online gestellte virtuelle Zentrum lässt sich anklicken unter: www.exil-zentrum.de. Es verfügt über mehr als 1.500 Biografien unter www.exil-archiv.de. Dabei handelt es sich nicht nur um die Schicksale von Gegnern und Opfern der NS-Diktatur, sondern auch von vorbildhaften Persönlichkeiten, die gegenwärtig verfolgt werden wie beispielsweise der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo oder der türkisch-deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı.
Die pädagogische Plattform www.exil-club.de – einst gefördert vom Bundesbildungsministerium und ins Netz gestellt mit dem Partner „Schulen ans Netz“ - kann seit 2008 nicht mehr weiterentwickelt werden. Seitdem führt dieses Vorzeigeprojekt ein Dornröschenschlaf. Es mangelt zwar nicht an politischen Lippenbekenntnissen über Chancen und Risiken des Internets, allein es fehlen die notwendigen Mittel…
In Polen und anderen Ländern: Willkommen
Mit inzwischen 17 Else Lasker-Schüler-Foren haben wir gezeigt, wie ein „Zentrum für verfolgte Künste“ arbeiten kann. Wir waren und sind bisher die einzige Literaturgesellschaft, die sich in Israel (2001), Polen (2003), Tschechien (2004), der Schweiz (2006) und Italien (2009) vorgestellt hat: Wir waren willkommen mit unseren Erinnerungsveranstaltungen, die Zeitzeugen wie den tschechischen Dichter Pavel Kohout in Schulen führten. Mit Slam Poetry-Aktionen und chinesischen Dissidenten, Ausstellungen, Diskussionen, Konzerten und Filmvorführungen. Unsere Arbeit war und ist ehrenamtlich. Wie viel erfolgreicher noch könnte professionell gearbeitet werden, mit fest angestellten Expert-Innen…
Auch Zeitzeugen des Holocaust wird es bald nicht mehr geben. Wir wollen zeigen, wie eine moderne Erinnerungskultur aussehen kann. Doch die Bundesrepublik Deutschland fördert ein „Zentrum gegen Vertreibung“, das im Ausland Ängste vor Revanchismus und Relativismus schürt. Dabei hat die Vertreibung 1933 begonnen – ebenso wie Else Lasker-Schüler mussten unzählige der Besten unserer Nation ins Ausland flüchten. 1945 war die Folge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.
Werkausgabe abgeschlossen
In Wuppertal befindet sich das Elternhaus der großen deutschen Lyrikerin sowie ein umfangreiches Else-Lasker-Schüler-Archiv bei der Stadtbibliothek. Mit Leihgaben auch der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft. Doch Briefe, Zeichnungen und Sammlungen sind noch immer weit verstreut - in Jerusalem, der Schweiz, den USA und in verschiedenen deutschen Städten. Deshalb unterstützte die Gesellschaft von Anfang an die Forschung zu Else Lasker-Schüler und die Herausgabe einer Kritischen Gesamtausgabe. Das Projekt ist inzwischen abgeschlossen und im Jüdischen verlag (Suhrkam) erschienen.
Mit "Mein Herz - Niemandem" (1993), "Meine Träume fallen in die Welt" (1995), "Deine Sehnsucht war die Schlange" (1997), „Fäden möchte ich um mich ziehen“ (2000), „In meinem Turm in den Wolken“ (2002), „Zweiseelenstadt“ (2004), „Manchmal habe ich Sehnsucht nach Prag“ (2005) und „Wo soll ich hin? Zuflucht Zürich – Fluchtpunkt Poesie“ haben wir die Arbeit der Gesellschaft und die ELS-Foren dokumentiert. Erschienen sind diese Almanache im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. "Zwischen Theben und Shanghai" (Oberbaum Verlag, 1999) lautet der Titel des Buches zum fünften Lasker-Schüler-Forum mit Themen wie „Jüdisches Exil in Shanghai“ und „Chinas Dissidenten heute“.
„Gewissen gegen Gewalt“ erschien in der Edition Künstlertreff. Untertitel „Für ein Else Lasker-Schüler-Zentrum der verfolgten Künste“. Einige unserer 1.400 Mitglieder nennen dieses Buch „die Mao-Bibel“ der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft.
Die „Entartete“ rehabilitiert
Stolz war die Dichterin Else Lasker-Schüler darauf, dass 104 ihrer Zeichnungein in der Berliner Nationalgalerie hingen. Damit war es 1937 vorbei: Die Kunstwerke wurden als „entartet“ von den Nazis entfernt.
Die ELS-Gesellschaft war schon immer von der Qualität ihrer Namenspatronin als „Poetin der Zeichenfeder“ überzeugt. Mühsam haben wir 17 Originale zurückkaufen können. Sie sind die größte Sammlung außerhalb Israels in der ersten großen Werkausstellung, die in dreijähriger Forschungsarbeit von unserem Mitglied Dr. Ricarda Dick zusammengestellt wurde. Zu sehen zuerst von September 20010 bis 9. Januar in Frankfurt/Main und ab 21. Januar (bis 1. Mai) 2011 im „Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst“ in Berlin. Das ist die Deutsche Nationalgalerie. Damit kehrt die Künstlerin rehabilitiert dorthin zurück, wo man ihre Kunstwerke einst nicht haben wollte.
Daran dürfte unsere 20jährige Arbeit einen Anteil haben. Denn selbst in der Geburtsstadt Wuppertal wollte eine ehemalige Museumsleiterin „die bunten Bilder“ nicht ausstellen, weil sie ihren Qualitätsvorstellungen nicht genügten.
Die „Badische Zeitung“ schrieb am 11. Dezember 2010 über die Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt: „Wie in einer Schatzkammer hat man >Die Bilder< arrangiert. Ein – angesichts der Strahlkraft – verzeihlicher Etikettenschwindel steckt im Titel insofern, als es Papierarbeiten sind, gut 150 an der Zahl. Den Orient, den ein Delacroix auf großer Bühne beschwört, bannt die Deutsche mitunter auf Telegrammformulare. Erst jetzt lässt sich auf einen gesicherten Bestand des schwer zugänglichen Œuvres zurückgreifen; dem Einzug in die Kunstgeschichte steht nichts im Weg. Der Katalog birgt das Werkverzeichnis: 235 Zeichnungen und 113 Illustrationen stark. Nach Lasker-Schülers Tod im Jahr 1945 war das von den Nazis stigmatisierte bildkünstlerische Werk in Vergessenheit geraten. Viele Blätter sind undatiert, viele gelten als verschollen. Nicht leicht, die Aufarbeitung mit lauter Unbekannten.
Von heute aus betrachtet, erscheint die Frau, die Karl Kraus, Otto Dix und Karl Schmidt-Rottluff beeindruckte, wie die Cindy Sherman der Klassischen Moderne. Dabei fand die Bankierstochter – >Wie es mir ging, bevor ich nach Asien fuhr und zu den Sphinxen nach Afrika, ahnen Sie ja gar nicht< – im verschleierungsfreudigen orientalischen Kulturkreis offenbar ein Zuhause. Und tausendundeinen Stoff für kleine Träumereien: >Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron. Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl. Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?<
Prominente Unterstützung
Initiatoren und Förderer der ELS-Gesellschaft sind / waren u.a. die Autoren Sarah Kirsch, Günter Grass, Herta Müller, Elisabeth Borchers und Ulla Hahn, Christine Brückner († 21.12.1996), Jürgen Serke, Edgar Hilsenrath, Ralph Giordano, Gabriel Laub († 3.2.1998), Alphons Silbermann, K. O. Mühl und Günther B. Ginzel; aus Israel Yehuda Amichai († 22.9.2000), Tuvia Rübner, Josef Tal († 25.8.2008), Asher Reich, David Faran-Frankfurter († 9.4.1994) und Jakob Hessing; aus Tschechien Jiri Stránsky (P.E.N. Präsident), Jiri Grusa (Minister a.D.), Josef Hruby und Frantisek Schildberger; aus Polen Eugeniusz Wachowiak und Ryszard Krynicki; Bundespräsident a. D. Johannes Rau († 27.1.2006), Hans-Dietrich Genscher, die ehemaligen Bundestagspräsidentinnen Rita Süßmuth und Annemarie Renger († 3.3.2008), die erste deutsche Bischöfin, Maria Jepsen, Sonja Kehler und Lutz Görner; Konrad Schily (Präsident der Universität Witten/Herdecke), die Verleger Siegfried Unseld († 26.10.2002) und Hermann Schulz, die Journalisten Hajo Jahn, Michael Schmid-Ospach und E. A. Ziegler, die Professoren Erich Hödl (Graz) Heinz Roelleke, Hans-Otto Horch (Aachen), Marianne Schuller (Hamburg) sowie Sigrid Bauschinger, Erika Klüsener und Dagmar C. G. Lorenz, der Lasker-Schüler-Nachlassverwalter in Jerusalem, Paul Alsberg († 20.8.2006), und der Cellist Siegfried Palm († 6.6.2005). Ehrenmitglied: Hans Sahl († 26.4.1993).
Mit Aktion gegen Neonazis bekannt geworden
Weil Else Lasker-Schüler vor den Nationalsozialisten flüchten musste, ihre Bücher 1933 verbrannt wurden, organisierte die nach ihr benannte Gesellschaft ab 9. November 1992 die bundesweite Aktion "Eine Nacht in Deutschland". Mehr als 50 Autorinnen und Autoren lasen in Asylbewerberheimen "gegen Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Antisemitismus": in Rostock, Mölln, Cottbus, Hünxe, Magdeburg, Dresden und anderen Städten. Mit dabei waren u.a. Herta Müller, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Günter Grass, Peter Häürtling, Reiner Kunze. Anlass waren die Anschläge von Neonazis auf Asylbewerberheime. Im Land der ehemaligen Asylbewerber Thomas Mann, Bertolt Brecht, Albert Einstein, Else Lasker-Schüler und unzähligen anderen Künstlern und Intellektuellen durften diese Übergriffe nicht hingenommen werden!
Leben kann man nur vorwärts,
das Leben verstehen nur rückwärts (Unbekannte Quelle)
So organisierten wir für Susan Cernyak-Spatz, USA, eine "Holocaust-Unterrichtsreise" durch die BRD – sie war im KZ Auschwitz. Für polnische Gymnasien arrangierten wir ein Unterrichtsbuch mit Übersetzungen von ELS-Gedichten; Schulbücher mit weiteren Autoren für andere Länder sind beabsichtigt.
Wir vergaben einen Lyrikpreis, den wir mangels Spendengelder und anderer Unterstützung ausgesetzen mußten (Preisträger: 1994 Thomas Kling, Köln; 1996 Friederike Mayröcker (Wien). Wir möchten Else Lasker-Schülers Werk weiter aktualisieren, um dabei auch bedeutenden zeitgenössischen Lyrikern ein Forum zu geben.
Ein besonders wichtiges Anliegen – unterstützt von unserem 1999 verstorbenen Mitglied Ignatz Bubis, dem P.E.N - Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland (London) und dem Verband deutschsprachiger Schriftsteller in Israel – ist das bereits erwähnte „Zentrum für verfolgte Künste": Als nationale Einrichtung gegen die "Universalität des Vergessens", gegen Neofaschismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz mit den Themen Bücherverbrennung, Verbot und Zensur von Büchern, Unfreiheit der Kunst (auch in der DDR), Emigration: Mehr als 2.500 deutschsprachige Autoren mussten während der NS-Diktatur ins Exil flüchten.
Den Aufruf haben nicht nur die Mitwirkenden an den Dichterlesungen in Asylbewerberheimen unterzeichnet, sondern auch das deutsche P.E.N. Zentrum, Ingrid Bachér, Jiri Grusa, Siegfried Lenz. Alfred Grosser, Ruth Klüger, Georg Stefan Troller, Carola Stern, Klaus Harpprecht, Hans Keilson und Salman Rushdie.
„Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ Moliere, franz. Dramatiker (1622-16739)