In memoriam Paul Alsberg
Am 20. August 2006 ist
Paul Alsberg in Omer, Israel, gestorben. Er war der langjährige Verwalter des literarischen Nachlasses der Dichterin Else Lasker-Schüler, Mitglied und Förderer der nach ihr benannten Gesellschaft.
Paul Alsberg wurde am 13. März 1919 in Elberfeld - heute Wuppertal - geboren. Seit seiner Flucht aus Deutschland hat er sich für die Verständigung zwischen seinem Geburtsland und Israel eingesetzt hat. Der ehemalige Staatsarchivar der israelischen Regierung war zudem Vorsitzender der Vereinigung von Einwanderern aus Mitteleuropa in Israel. Und stets ein Mann des Friedens. Wir verlieren mit ihm einen eindrucksvollen Menschen und Freund.
Das XIII. Else-Lasker-Schüler-Forum in Zürich, an dessen Vorbereitungen er lebhaften Anteil nahm, ist ihm gewidmet.
Hajo Jahn
1. Vorsitzender der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft e.V. u. -Stiftung
Abschied von Paul Alsberg
Begründer des israelischen Archivwesens, Ehrenmitglied der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Nachlassverwalter der Dichterin und Repräsentant der "Jeckes"
Sich nie in den Vordergrund drängend; gegenüber jedermann bescheiden und freundlich auftretend; mit ruhiger, sanfter Stimme seine Worte wägend; stets eindeutig Position beziehend; hochsensibel... : der körperlich schmächtige Herr mit dem schlohweißen Haarkranz und den schmalen, schönen Händen war eine außergewöhnliche Persönlichkeit.
Die Rede ist von Prof. Dr. Paul Alsberg, dem in Wuppertal geborenen Begründer des israelischen Archivwesens, jahrzehntelangen Staatsarchivar mehrerer israelischer Regierungschefs, ehrenamtlichen Nachlaßverwalter der Werke von Else Lasker-Schüler und Ehrenmitglied der ELS-Gesellschaft. Er starb am 20. August 2006 87jährig in Beer Sheva. Seine Familie, seine Freunde, viele seiner einstigen Mitarbeiter und ehemaligen Studenten, dazu eine große Zahl von "Jeckes" - so werden Israelis deutscher Muttersprache genannt - nahmen auf dem Friedhof von Omer, seinem letzten Wohnort, Abschied.
Es war eine tief aufrüttelnde Beerdigung in jüdischer Tradition, bei der seine Tochter Irith, seine Enkel und deren Ehepartner ergreifende Abschiedsworte sprachen. Auf dem Friedhof von Omer bei Beer Sheva, am Rande der an diesem Tag glühendheißen Negevwüste mit zur Abendstunde noch immer 38 Grad im Schatten, war ein größerer Kontrast zu Wuppertal und zur grünen bergischen Heimat von Paul Alsberg, an die in den Trauerreden erinnert wurde, kaum vorstellbar. Und nicht wenige dachten in dieser Stunde, wo die einzelnen Lebensphasen von Paul Alsberg noch einmal aufgezeigt wurden, an die unbegreifliche Dimension des millionenfachen Mordens und der Vertreibung im Holocaust und damit auch an die wahnsinnige Selbstamputation des deutschen Volkes um viele ihrer Besten durch die Nationalsozialisten und ihre Helfer.
In Wuppertal als drittes Kind einer alteingesessenen und wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren und aufgewachsen (der Vater besaß mehrere Bettengeschäfte und einige Jahre lang zusätzlich eine Schuhfabrik) ging der hochintelligente Paul, weil er als "Nichtarier" keine andere Möglichkeit zum Studium hatte, 1936 nach dem glänzenden Abitur am Wuppertaler Realgymnasium Aue auf ein Rabbinerseminar in Breslau. Dort wollte er nicht Rabbiner werden, sondern bis zu seiner Ausreisegenehmigung nach Palästina, wo bereits sein älterer Bruder Otto lebte, Hebräisch lernen und seine Kenntnisse über das Judentum vertiefen. Dort, im selben Seminar, lernte er seine spätere Frau Betti Keschner kennen, die ebenfalls aus dem Wuppertal stammte.
Bettis beherztes Handeln rettete Paul Alsberg das Leben. Er wurde am 10. November 1938 nach der sogenannten Reichskristallnacht in Breslau, wobei das Rabbinerseminar von der Gestapo geschlossen wurde, mit allen anderen männlichen Lehrern und Studenten verhaftet. Die tapfere Betti, die man nicht mitnahm, folgte ihm heimlich, bis sie wusste, wohin man ihn brachte. Schlimmstes befürchtend telegrafierte sie sofort an den Bruder in Palästina, damit er eine Einwanderungserlaubnis erwirkte. Das ging damals gegen Geld. Von ihr benachrichtigt, kaufte die Familie Alsberg in Wuppertal ihren Sohn bei den Nazi-Behörden frei. Ohne dass die Angehörigen benachrichtigt worden waren, hatte man Paul Alsberg ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er unter den dort herrschenden fürchterlichen Haftbedingungen schon bald totkrank geworden war. Das junge Paar rettete sich nach Jerusalem, wo Paul Alsberg an der Hebräischen Universität Geschichte und romanische Philologie studierte und überein bis dahin nicht aufgearbeitete Kapitel zionistischer Geschichte promovierte. Weil er zunächst keine feste Anstellung finden konnte, machte sich Paul Alsberg mit einem Studienfreund mit einer kleinen Werkstatt selbständig, in der sie kleinere Möbel fertigten. Als das wegen der Knappheit an Holz nichts mehr einbrachte, fand er mehr durch Zufall eine erste Anstellung als Archivar. Diese Tätigkeit wurde Leidenschaft und Lebensaufgabe. Er wurde ins Staatsarchiv übernommen, machte dort Karriere und baute im Laufe der Zeit das gesamte israelische Archivwesen auf (es bestand vorher nur in Anfängen). Sämtliche dazu erlassenen Gesetze und Vorschriften tragen seine Handschrift. Zusätzlich übernahm er einen Lehrstuhl für Archivkunde an seiner alma mater, der schon bald internationales Ansehen hatte. Generationen von Archivkundlern und Bibliothekaren studierten bei ihm. Ab 1957 war er Direktor des Staatsarchivs und von 1970 bis 1991 offizieller Staatsarchivar mehrerer israelischer Regierungen.
Auf seinem Fachgebiet war Prof. Alsberg ein Gelehrter von Weltruf. Er vertrat sein Land in vielen internationalen Vereinigungen und Arbeitsgruppen. Zu jener Zeit, im sogenannten "´kalten Krieg" zwischen Ost und West, als Israel auf dem internationalen Parkett um politische Anerkennung rang, war sein Ansehen so enorm, dass seine Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt die Eröffnung eines internationalen Fachkongresses in Moskau solange boykottierten, bis die Sowjetregierung nachgab und das auf dem Flugplatz festgehaltene, offiziell unerwünschte israelische Ehepaar Alsberg doch teilnehmen ließ.
Paul Alsberg, der unmittelbar nach Kriegsende in geheimem Auftrag (der Staat Israel war noch nicht gegründet) in Deutschland und anderen europäischen Ländern Dokumente und Unterlagen über das Schicksal der Holocaust-Opfer gesichert hatte, deren grauenhafte Wahrheit ihn sein weiteres Leben nie mehr losließ und ihn schmerzlich um sein persönliches Verhältnis zum neuen Deutschland ringen ließ, führte Jahrzehnte den Vorsitz der wissenschaftlichen Kommission der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem. In dieser Funktion wurde er auch Mitherausgeber der Dokumentation des Eichmann-Prozesses.
Als Präsident der Organisation aus Mitteleuropa nach Israel Eingewanderter, die unter anderem Altenheime unterhält, war Paul Alsberg der einflußreiche Sprecher einer für Israel prägenden Bevölkerungsgruppe. Zusätzlich war er Chefredakteur des viel gelesenen "MB", ein Kürzel für den Titel "Mitteilungsblatt", den man aber früher wegen der damals lange verpönten deutschen Sprache wenig benutzte.
Paul Alsberg empfand es fast als schicksalhaft, dass er, damals noch in Jerusalem zu Hause, vor knapp 30 Jahren über seine in Beer Sheva lebende Tochter Irith, die sich dabei sehr engagierte, auch in die Modell-Städtepartnerschaft zwischen Beer Sheva und Wuppertal eingebunden wurde. Er tat sich anfangs schwer damit, engagierte sich im Laufe der Jahre dafür umso mehr.
Über sehr persönliche Freundschaft entwickelte sich schließlich auch bei ihm eine Dialogbrücke zu seiner Vaterstadt, was ihn - zuvor für ihn völlig undenkbar - schließlich sogar veranlasste, voller Freude eine Einladung als Ehrengast zur Einweihung der neuen Wuppertaler Synagoge zu akzeptieren - mit Bundespräsident Johannes Rau, dem israelischen Staatsoberhaupt Moshe Katzav und Paul Spiegel, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland.
Paul Alsberg war vielseitig interessiert und belesen, beherrschte fünf Sprachen, galt auf mehreren Gebieten als wandelndes Lexikon. Die monatelange, schwere Krankheit, die er nicht mehr überwinden konnte, schonte seinen brillanten Intellekt. Er war bis zum Schluss hellwach. Seine Frau Betti - sie waren 67 Jahre miteinander verheiratet, hatten als bittersten Schicksalsschlag den Tod ihres Sohnes Moni, der als israelischer Soldat im Krieg fiel, nie verwinden können - hielt ihm bis zuletzt die Hand. Von ihr, seiner Tochter, den Enkeln und ihren Lebenspartnern Tag und Nacht liebevoll umsorgt und keine Minute allein gelassen, ist Paul Alsberg friedlich eingeschlafen.
Auch im Reinen mit seiner Vaterstadt, die ihn zu ihren großen Söhnen zählen darf.
Ernst-Andreas Ziegler