Von Hajo Jahn
GRUSELKICK nennt der deutsche Historiker Götz Aly die Gedenkstättenförderung der Bundesrepublik. Weil sie sich „an KZs, Terror und Massenmorden“ orientiere. „Weil die Rituale der jetzigen Erinnerungspädagogik und Erinnerungspolitik für die Internetgeneration moderner werden muss. Weil für die jetzige und die kommenden Generationen die Verbrechen so weit entfernt sind wie der Mond“, sagten Teilnehmer einer Podiumsdiskussion am 26. Februar 2012 im Kunstmuseum Solingen. Es ging um eine „unerledigte Aufgabe der deutschen Kulturpolitik“. Das „Zentrum für verfolgte Künste“ bietet eine Perspektive. Denn es soll zentral die bereits vorhandenen, überwiegend wissenschaftlichen Institutionen wie die Deutsche Nationalbibliothek, das Literaturarchiv Marbach zusammen mit den zahlreichen, oft ehrenamtlichen Initiativen von Vereinen und Schulen in eine zeitgemäße „Erinnerungsarbeit in Verantwortung für die Zukunft“ einbinden.
Die ELS-Gesellschaft mit ihrem Partner „Exil-P.E.N. versteht sich dabei als Perspektiven-vertretung, um die Minderheiten der widerständigen, zensierten, exilierten, einst und jetzt verfolgten Künstler, Journalisten, Schriftsteller etc. in der Wahrnehmung der Mehrheiten von monothematischen Reduktionen zu befreien. Um Raum zu schaffen für politischen Erinne-rungspluralismus. Mit anderen Zielen und Arbeitsweisen als die etablierte, oft ritualisierte Erinnerungsarbeit mit erhobenem Zeigefinger „Nie wieder Holocaust!“ Sonst bleibt die Frage, ob die einzigartigen Verbrechen der Nazis und die angeblich kommode DDR-Diktatur die Gründe für die Selbstlähmung vieler Deutscher sind. Und wenn ja, warum lässt sich nicht daraus im Umkehrschluß im 21. Jahrhundert Optimismus aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts vorleben? Durch jene Schriftsteller und Maler, Musiker, Geistes- und Naturwissenschaftler, auf die wir stolz sein können, weil sie die Besten waren.
Fazit der Podiumsdiskussion über „Das vergessene Erbe“ am 26. Februar im Solinger Kunstmuseum: „Wir alle brauchen ein Zentrum für verfolgte Künste, basierend auf der Geschichte und von Betroffenen mitgestaltet“, so Peter Finkelgruen vom PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland („Exil-PEN“) in der Einleitung der Diskussion. Fritz Pleitgen, der in der Sowjetunion als ARD-Journalist die Diktatur hautnah kennengelernt hat, erwidert: „Dass dieses Zentrum aber nicht vorankommt, hat damit zu tun, dass es eine Mehrheit nicht will.“ Die Gegner säßen auch in der Politik. Und wenn das Projekt jetzt nicht nach vorn gebracht werde, „wird es zerredet und der Apparat hat wieder einmal gesiegt!“
Der Bundestagsabgeordnete Siegmund Ehrmann nahm das Stichwort auf: „Erinnerungs-kultur kann auch schnell in Erinnerungsritualen stecken bleiben." Gerade vor dem Hinter-grund der erst nach Jahren aufgedeckten Neonazi-Terrormordserie müssten Zivilcourage und Demokratiefestigkeit gestärkt werden. Dazu könne ein Zentrum für Künste im Exil beitragen, das „alle Sinne" ansprechen müsse.
Also: Weg vom „Gruselkick“! Museumsexperte Dr. Justinus Maria Calleen sah es prag-matisch: „Ein föderativ und inhaltlich bündelndes, kooperatives, auf gleicher Augenhöhe mit anderen Einrichtungen koordinierendes Zentrum muss autark sein - finanziell unabhängig und nicht weisungsgebunden, dabei Impulsgeber, sowohl Veranstalter als auch bundes-deutsche Interessensvertretung im Sinne einer Sprecherrolle aller angeschlossenen Akteure, unter Wahrung der Selbstständigkeit der verschiedenen, dezentralen, kooperierenden Akteure. Diese Selbständigkeit ist aber zugleich unabdingbar für das Zentrum in seiner nationalen Binnenwirkung als auch in der immer notwendiger werden internationalen Zusammenarbeit mit einst besetzten Staaten und den ehemaligen Exilländern der verfolgten deutschen Künstler und Intellektuellen.“
Teilnehmer der Diskussion waren (von rechts): der ehemaligen WDR-Intendanten Fritz Pleitgen, der Theaterexperte Dr. Volker Canaris, der deutsch-türkische Schriftsteller Doğan Akhanlı, der Bundestagsabgeordnete Siegmund Ehrmann als kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, der Kulturhistoriker Dr. Justinus Maria Calleen und der Musikwissenschaftler Prof. Klaus W. Niemöller.
Foto: Manfred Brusten