George Dreyfus mit der Urkunde über die Ehrenmitgliedschaft bei der ELS-Gesellschaft (Foto: Manfred Brusten)
Ehrungen, hat Bundeskanzler Konrad Adenauer einmal gesagt, das ist, wenn die Gerechtigkeit ihren liebenswürdigen Tag hat.
George Dreyfus ist nach dem exilierten Schriftsteller Hans Sahl, nach dem Lasker-Schüler-Nachverwalter Prof. Paul Alsberg und nach Adolf Burger – dessen Lebensgeschichte als Film einen Oscar bekommen hat - erst das vierte Ehrenmitglied der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft in 19 Jahren.
Wir gehen also sparsam mit diesen Würdigungen um. Aber damit keine Legendenbildung entsteht: Die jetzige Ehrung ist vom Vorstand der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft lange vor dem Entscheid der Jury für den Wuppertaler Kulturpreis gefällt worden, also kein ein Ausgleich dafür, daß George Dreyfus diese Auszeichnung nicht den erhalten hat. Es ist ja auch kein Geheimnis, daß honorige Bürger ihn bereits vor mehr als 10 Jahren schon einmal dafür vorgeschlagen hatten. Auch andere honorige mögliche Kandidaten wie etwa Bazon Brock sind bislang nicht mit diesem Kulturpreis geehrt worden. Obwohl beide Persönlichkeiten auch die Stadt ehren, aus der sie kommen beziehungsweise in der sie wirken. Beide haben Lebensleistungen vorzuweisen, von denen auch Wuppertal profitiert.
Am 15. Oktober 2008 schrieb der neben Aribert Reimann wohl berühmteste zeitgenössische Komponist Deutschlands, Udo Zimmermann aus Dresden, dem Wuppertaler Oberbürgermeister Jung ein Brief, in dem es unter anderem heißt:
„Die geistreiche und unterhaltsame Kompositionsweise von George Dreyfus, der im besten Sinne die handwerklichen und ästhetischen Ansprüche der europäischen Musiktradition aufnimmt, hat uns außerordentlich beeindruckt. Sein Schaffen und persönliches Auftreten stehen für Verständigung und Toleranz.“
So ein Brief, so eine Würdigung aus berufenem Munde – das ist wie ein Ritterschlag.
1955, zehn Jahre nach Kriegsende, hat George Dreyfus zum ersten Mal wieder seine Heimatstadt Wuppertal besucht, an die er sich kaum noch erinnern konnte. Seine Mutter hatte ihm einige Adressen mitgegeben, um alte Kontakte zu erneuern. Dreyfus war 27 Jahre alt und erkundigte sich nach den Stätten seiner Kindheit, besuchte sein Elternhaus in der Platzhofstrasse, wo er aufgewachsen war. Er hörte vom Tod seiner Großmutter Paula, die 1942 vor dem angekündigten Abtransport Gift genommen hatte. Obwohl George Dreyfus somit erfahren musste, wie sehr die Judenverfolgung auch seine eigene Familie betroffen hatte, suchte er immer wieder den Kontakt zu seiner Heimatstadt und fand dort neue Freunde wie Anneli und Manfred Brusten, Uschi und Joachim Dorfmüller oder Doris Rother und mich.
Neuerdings erinnern auch Stolpersteine an Verwandte von George Dreyfus – eine andere Verbindung zu Wuppertal ist die Dichterin Else Lasker-Schüler. Sie musste ins Exil wie George Dreyfus.
Ihre Geschichten und die der Tausenden von weiteren deutschen Exilanten ist nicht erbaulich. Dabei waren die Künstler und anderen Intellektuellen, die aus Deutschland fliehen mußten, die Besten aus unserer Nation. Mit ihnen wollen wir eine andere Form der Erinnerungskultur pflegen als es der Bund der Vertriebenen vorhat: Die Vertreibung von 1945 war die Folge der Naziverbrechen, die wirkliche Vertreibung hat 1933 begonnen, als Else Lasker-Schüler, Bert Brecht, Alfred Döblin, Albert Einstein, Schönberg und Adorno, Hindemith oder Billy Wilder ins Exil flüchten mußten.
Die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft hat ihr Ziel eines Zentrums der verfolgten Künste ansatzweise erreicht. Unter dem Dach des Kunstmuseums Solingen. Auch mit Hilfe des Landschaftsverbandes Rheinland, dessen Parlament auch Bürgermeisterin Ursula Schulz angehört.
George Dreyfus ist als Zeitzeuge mehrfach bei Veranstaltungen unserer Gesellschaft in Schulen gewesen, um mit jungen Menschen über die NS-Diktatur zu reden und zu diskutieren. So mancher seiner Schicksalsgefährten hat das Exil mit dem Leben bezahlt. George Dreyfus musste sich künstlerisch durchkämpfen auf einem Kontinent, der eher für seine Schafherden und Wüsten bekannt ist als für Kultur. Erst als er finanziell halbwegs unabhängig war, konnte er sich einen Traum erfüllen – nein, keinen Mercedes, Porsche oder ähnliche Luxusgüter:
Er war auf dem 5. Kontinent längst in interessierten Kreisen ein anerkannter Musiker, als er sich den Luxus eines Europa-Aufenthalts leistete, um sich weiterzubilden, um endlich die moderne Kompositionstechnik zu studieren, was ihm dort unten nicht vergönnt gewesen war.
Elser Lasker-Schüler steht für Widerborstigkeit, George Dreyfus versteht sich als Zelig-Figur, als Anpassungskünstler. Dennoch hat er Gedichte von Else Lasker-Schüler in einer unangepassten Art und Weise vertont – verwoben mit Naziliedern und Nazigeschrei wie es die Dichterin bei Störungen ihrer Lesungen ein Berlin erlebt hat.
Ihre Kunst und ihr gemeinsames Schicksal verbinden George Dreyfus und Else Lasker-Schüler.
Lesen sie in der verlinkten pdf-Datei die Laudatio von Prof. Dr. Norbert Platz, Trier, Gründungsmitglied der Gesellschaft für Australienstudien.
Norbert Platz
Ein Fest für George Dreyfus – Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft
(Rede in Barmen am 18.10.2009)
Lieber George Dreyfus! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Sie alle kennen sicherlich Trier, die alte Römerstadt. Dort residierte vor etwa 1700 Jahren der römische Kaiser Konstantin der Große. Ich selbst wohne in Trier und darf mich derzeit einen Trierer nennen. Auf Lateinisch darf ich also sagen: homo Trevirensis sum, ich bin ein Trierer. Über diese lateinische Brücke möchte ich einen reizvoll-schicklichen Bezug zu George Dreyfus herstellen. Denn dieser, obwohl in Elberfeld geboren, darf sich aufgrund seines Namens auch als Trierer bezeichnen. Denn "Dreyfus" ist von lateinisch Treveris oder Trevirensis abgeleitet. Infolgedessen könnte unser heutiger Ehrengast ebenfalls von sich mit belustigtem Augenzwinkern und in seiner kernigen Baritonstimme sagen: "Auch ich bin ein Trierer". (Vielleicht kann er es genießen, seinen Namen und sich selbst ein wenig vom Nachglanz des großen Konstantin bescheinen zu lassen.)
Blick in die Lutherkirche, Barmen, Obere Sehlhofstr.42, während des Festaktes zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft an George Dreyfus
(Foto: Manfred Brusten)
Als Trierer und als alter Freund ehrt es mich persönlich, dass ich heute über Geoge Dreyfus, den 'anderen' Mann aus Trier, sprechen darf. Dessen jetzige Heimat liegt natürlich auf dem entgegengesetzten Teil der Erde ganz da unten, down under. Aber von ganz da unten gelang Georg Dreyfus doch ein erstaunlicher Aufstieg in den griechischen Parnass, den Reigenplatz der Musen. Der Parnass symbolisiert die von allen Künstlern ersehnte Höhe von Erfolg und Ehre. Ohne Zweifel darf George Dreyfus zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Australiens größter Komponist gelten.
Heute wird ihm von der Else-Lasker-Schüler Gesellschaft eine besondere Ehre zuteil. Und das ist gut so. Auch heute gilt noch, was zur Zeit Konstantins eine kulturstiftende römische Maxime war: Honos alit artes.1 Man verstehe hier den doppeltem Sinn, der dem Römer Cicero vorschwebte, als er diesen Merksatz formulierte: "Ehre belebt die Künste", das ist die erste Sinnebene. Die zweite Sinneben wäre: "Ansehen ernährt die Künstler".
Wie darf und soll man eine Person und einen Künstler vom überragenden Rang eines George Dreyfus in einer kurzen Rede ehren und würdigen? (Zu seiner 'Ernährung', gemäß der 2. Sinnebene, kann ich mit meinen Worten heute leider nicht beitragen.) Als Muster fällt mir zunächst der Anfang von Homers Odyssee ein. Deshalb red' ich homerisch Sie an und sprech' "die geflügelten Worte":
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,Wenn ich nunmehr meine eigenen dem Homer nachgedichteten Zeilen von der poetischen auf die lebensweltliche Ebene herabstufe, dann ergeben sich folgende Deutungsoptionen:
Sage mir, Muse
Der Musenanruf "Sage mir, Muse" ist deshalb angebracht, weil man ein gehöriges Maß an Einblick und Umsicht braucht, um Leben und Werk des Menschen und Komponisten George Dreyfus in seiner reichen Fülle angemessen darzustellen. George Dreyfus verdient, dass bei dem heutigen Anlass ein wenig anders gesprochen wird, als man über ihn in einem Lexikon (wie z.B. Wikipedia) nachlesen kann. Von den auf dem Parnass residierenden neun Musen anzurufen ist heute zunächst Kalliope. Das ist die mit der 'schönen Stimme' und Patronin der epischen Dichtung; sie liefert auch den feierlichen Sprachduktus. Ihr zur Seite treten darf auch Klio, die rühmende. Sie ist die Muse der Geschichtsschreibung. In unserem Zusammenhang ist sie anrufbar, weiß sie doch über die rühmlichen Verdienste des George Dreyfus kraft ihres himmlischen Amtes so überaus gut Bescheid! Die Muse Klio ist ihrerseits dem historischen Subjekt George Dreyfus zu großem Dank verpflichtet. Denn der zu preisende George Dreyfus hat sein Leben und Wirken selbst ausführlich dokumentiert, und dies in mehreren Büchern, vielen Interviews und sogar in Fernsehsendungen Die Titel seiner Bücher sind vielen von Ihnen wahrscheinlich bekannt: The last frivolous Book (1984), Being George and liking it: Reflections on the life and work of George Dreyfus on his 70th birthday (1998) und erst vor einigen Wochen erschienen Don't ever let them get you! Wie man aus dem ironischen Beiklang der Titel heraushören kann, möchte er sich ja nicht erwischen lassen. George Dreyfus täuscht hier Wirklichkeitsflucht vor, die jedoch glücklicherweise nicht gelungen ist. Denn gerade diese Bücher erlauben es uns, seiner habhaft zu werden.
Die Taten des vielgewanderten Mannes
Gesprochen werden soll von den Taten des vielgewanderten Mannes. George Dreyfus ist im Rückblick auf sein Leben ein wahrlich 'vielgewanderter Mann'. Schon als Kind musste er 1939 im Alter von 10 Jahren seine Heimat verlassen und wurde ins ferne Australien verschifft. Das ging nicht auf eigenes Tun zurück, sondern wurde ihm angetan und zwar von seinen Eltern in bester Absicht: Sie wollten ihn vor der Verfolgung durch die Nazis und einer drohenden Verschleppung ins Konzentrationslager bewahren. Nachdem er der Berliner ersten Heimat beraubt war, konnte er in Australien eine sichere und ihm zunehmend gewogene zweite Heimat finden. In dieser vermochte er nicht nur zu überleben, sondern sich als Komponist in einer Weise zu entfalten, wie es ihm in seiner ersten Heimat in gleichen Maße wahrscheinlich nicht vergönnt gewesen wäre. – Über seine großen Taten wird gleich noch mehr zu berichten sein.
Welcher so weit geirrt, nach der unseligen Heimat Beraubung
Nach der unseligen Heimat Beraubung war Dreyfußens Leben auf dem 5. Kontinent zunächst einmal von Irrungen und Wirrungen geprägt. So weit geirrt ist er auf dem fünften Kontinent nicht als backpacker, Rucksacktourist, sondern auf der Suche nach Beschäftigung oder Ausbildungsmöglichkeiten. Dabei hat er viele Orte gesehen und deren Lebensformen und kulturellen Milieus kennen gelernt. Die erste Zeitphase verbrachte er in Melbourne im Südosten. Später arbeitete er in einem Orchester in Perth in Westaustralien, verbrachte viel Zeit in Sydney und Canberra (wieder im Osten) und hielt sich überdies in verschiedenen anderen Orten auf. (Zu deren geografischer Bestimmung müsste man hier in der Kirche eine detaillierte Karte von Australien aufhängen, was sich in diesem sakralen Ambiente wohl als Stilbruch erweisen würde.)
Ich selbst traf ihn in den frühen 1990er Jahren zum ersten Mal auf einer Tagung in Brisbane.
Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt
Er hat, wie er selbst als Klios freiwilliger Helfer dokumentiert, vielfältige Erfahrungen gemacht und Einblicke in die kolonialen und postkolonialen Lebensbedingungen der Australier gewonnen.
Verweilen wir zunächst einmal mit ihm in Melbourne, wo er heute noch wohnt. Er besuchte dort in jungen Jahren die Melbourne High School. In besagter Schule tat er sich im Fach Musik so ruhmreich hervor, dass man ihm den Beinamen Mr. Music zuerkannte. (Seine Rivalen waren ein Mr. Sport und Mr. Science; von beiden hat man allerdings – im Unterschied zu George Dreyfus – nach der Schulzeit nicht mehr allzu viel gehört.) Sein damaliger Musiklehrer war bass erstaunt, dass der Schüler George beim Vorspielen von Schallplatten die Musik von Richard Wagners Die Meistersinger erkannte. Aus eigener Neugier beschäftigte George sich schon früh mit den Handlungsabläufen, die in den großen Opern ihre musikalische Weihe erfuhren. Da in Australien kaum Gelegenheit bestand, Opernaufführungen zu besuchen, verschaffte sich der wissbegierige junge Mann alte Schallplatten, vor allem von Wagner-Opern. 3
In der Schule machte er schon früh einen wichtigen Erfahrungszugewinn: Als Mr. Music erhielt er die ehrenvolle Aufgabe, den Schulchor zu dirigieren. Da wurden schon Spuren für später gelegt. Er sollte noch oft als beindruckender Dirigent in Erscheinung treten – nicht zuletzt bei der Aufführung seiner eigenen Werke.
Während seines 2. Lebensjahrzehnts war es vorübergehend noch unklar, auf welches Instrument er sich spezialisieren sollte und könnte. Das Klavier war, wie er selber bezeugt, nicht seine erste Wahl. Als er das Konservatorium von Melbourne besuchte, beschäftigte er sich zunächst mit der Klarinette, um sich dann für das Fagott zu entscheiden. [Ein solches Instrument musste zunächst einmal ausgeliehen werden, weil in der Familie noch das Geld für den Kauf fehlte. Für seinen Entschluss motivierend war die Tatsache, dass ein befreundeter Maler ein Bild malte, welches den 17-Jährigen als Fagottspieler porträtiert. Die Wahl des Fagotts, für das er sich konzertreif qualifizierte, hat sein späteres Wirken entscheidend beeinflusst. Wenn man im Gesamtverzeichnis seiner Werke blättert, ist man erstaunt, wie häufig dem Fagott eine solistische oder musikalisch strukturbildende Rolle zugeschrieben wird. Seine Odyssey for a Lone Bassoon darf hier vielleicht an erster Stelle erwähnt werden. Die Fagottisten auf aller Welt sollten George Dreyfus dankbar sein, dass er ihnen so viele wirkungsvolle Passagen geschrieben hat, mit denen sie sich bei ihren Konzerten profilieren können. Stellvertretend sei hier das Stück Old Melbourne für Fagott und Gitarre genannt.4 Der Fagottpart fordert vom Spieler höchste Virtuosität, die Dreyfus selbst bravourös meistert.
Wer immer George Dreyfus bei früheren Begegnungen erlebt hat, weiß, wie er – meist mit dem Fagott in der Hand – sich sein Publikum charmant geneigt macht. Das Fagott ist das unverwechselbare Zeichen seiner persönlichen und künstlerischen Identität. In seinem Werkverzeichnis wird das Fagott bei etwa 30 Titeln als beteiligtes Instrument aufgelistet.
Seinen Weg zur Musik fand er nachweislich schon recht früh, aber es gab, wie er in seinen autobiografischen Aufzeichnungen und Interviews selbst dokumentiert hat – die Muse Clio ist über diesen Eifer höchst erfreut – , einige Schwierigkeiten zu überwinden, bis er dazu kam, zu komponieren und sich sodann 1964 als freischaffender Komponist zu etablieren. Wie er selbst feststellt: Australia was all wrong während seiner frühen Entwicklungsphase. Die Umstände schienen ihm zuwider zu sein. Um so erstaunlicher ist, dass so viel aus ihm geworden ist. 5
Clio stellt weit da oben in ihrem Parnass lächelnd folgenden Vergleich an: Im Unterschied zu Wolfgang Amadeus Mozart hatte George Dreyfus keinen Vater Leopold, der ihn zum Musiker ausbildete und ihm gute Verbindungen zu Gönnern vermittelte. 6
George Dreyfus hält selbst fest: Er sei ein lehrerloser, akademisch unbetreuter Auszubildender – oder könnte man auf Neudeutsch AZUBI sagen? – im Bereich 'Komponieren' gewesen. Wörtlich: "Die einzige Methode, wie ich in Bezug auf das Komponieren etwas lernen konnte, bestand darin, dass ich nachahmte, was ich auf den Schallplatten hörte oder über die Noten, die ich im Geschäft kaufen konnte." Er musste Autodidakt bleiben. 7
Aber wenn er auf seinen eigenen Lehrermangel zurückblickt, gewinnt er seinem Schicksal dennoch eine positive Note ab. Es sei für ihn von unendlichem Vorteil gewesen, seinen eigenen Weg zu gehen. Er tat infolgedessen dasjenige, was in seiner Situation für ihn möglich oder erforderlich war. Das unternehmerische carpe diem hat seine Entwicklung entscheidend geprägt. Aus der Außenperspektive lässt sich bestätigen: Die Freiheiten, die sich aus dem Pendeln zwischen den verschiedenen Musiktraditionen und -stilen ergaben, hat er weidlich und mit offenkundigem Vergnügen genutzt, als sich sein Erfolg einstellte. Aber vielleicht hat gerade das Fehlen eines Lehrers es ihm erleichtert, seinen eigenen unverkennbaren Weg zu finden.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei der eingangs zitierten dem Homer abgelauschten Wendung Welcher ... / so weit geirrt hat. Er betrachtet es in der Rückschau als reine Glückssache an, dass er wiederholt und meist mühelos Stipendien gewann, die ihm ertragreiche Bildungsreisen erschlossen. 1954 ermöglichte ihm ein deutsches Stipendium eine Reise nach Europa. Nachdem er in Bad Hersfeld im Kurorchester gespielt hatte, konnte er in Wien bei dem damals besten europäischen Lehrer seines Faches (Prof. Öhlberger) Fagott studieren.
Ein Reisestipendium der UNESCO z.B. verhalf ihm 1966 zu einer Deutschlandreise, wo er bei Stockhausen studieren wollte, der jedoch damals anstatt in Köln gerade in Amerika weilte. 1969 konnte er mit Hilfe eines Stipendiums drei Monate lang die Vereinigten Staaten besuchen. Weitere Förderungen brachten ihn 1976 zur Villa Massimo nach Rom, 1980 nach Jerusalem und zwischen 1983 und 1991 immerhin dreimal nach China. Natürlich schlossen sich in den 1990er Jahren weitere Deutschlandbesuche an, die den Aufführungen seiner Opern Rathenau in Kassel 1993 und Die Marx Sisters in Bielefeld 1996 geschuldet waren. Also hat er in der Tat Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt, und das ist bestaunenswert. Hier gleicht er nicht dem von Lebensstürmen gebeutelten Odysseus, sondern dem vom Leben begünstigten Helden eines deutschen Bildungsromans. Es war ihm vergönnt, eine freie individuelle Entwicklung zu einem höheren Selbst zu durchleben.
Prof. Dr .Norbert Platz, Trier, hielt die Laudatio auf George Dreyfus (Foto: Manfred Brusten)
Welcher in dem Leben manch unnennbare Drangsal erduldet
In unserem dem Homer nachgestalteten Text heißt es: Welcher ... /... in dem Leben manch unnennbare Drangsal erduldet. Als Außenstehende dürfen wir fragen? Welche Unannehmlichkeiten und Widrigkeiten mag es da gegeben haben?
In diesem Zusammenhang könnte man auf viele Details verweisen. Zunächst einmal wäre hier die Flucht aus Deutschland und der Kampf ums Überleben in Australien zu nennen. Von der Familie wurde harte Arbeit gefordert. Zeitweise sah es so aus, als ob George nicht seine musikalische Begabung kultivieren könnte, sondern im Geschäft seines Vaters mit Hand anlegen müsste. Glücklicherweise konnte er seinen musikalischen Neigungen folgen. Nach ersten Versuchen, sich als Komponist zu etablieren, musste er feststellen, dass von ihm im kulturellen Kontext Australiens zunächst einmal Anpassung verlangt war.
Er nahm zum rechten Zeitpunkt wahr, dass in Australien während der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts insbesondere Filmmusik gefragt war. Zu jener Zeit wurde ihm seine Stelle als Orchestermusiker gekündigt. Da musste er sich nach neuen Verdienstmöglichkeiten umsehen. Als Option ergab sich das Schreiben von Filmmusik. Es zeichnete sich für ihn ab, dass er als Filmkomponist würde überleben können. Im Klartext hieß dies: er musste die jeweils richtige Musik bereit stellen, die zum Film als Ganzem und dessen speziellen Szenensequenzen passten. Gute Kontakte und entsprechende Mundpropaganda verhalfen ihm zu lohnenden Aufträgen. Nach nicht allzu langer Zeit, konnte er von sich sagen: jetzt habe ich es geschafft, jetzt kann ich vom Komponieren leben. "Ich war der erste, der es auf diese Art probiert und geschafft hat." (BG, 84)
Als freischaffender (von der öffentlichen Hand nicht-alimentierter) Künstler musste er sich allerdings immer wieder um neue Aufträge bemühen. Jedoch hatte er ein glückliches Händchen in vielem, was er tat. Er lebte jedoch auch in einem ständigen Konflikt. Einerseits bestand die äußere Notwendigkeit, Geld zu verdienen, aber andererseits genehmigte er sich auch den inneren Drang, als Komponist seine eigenen künstlerischen Neigungen zu verwirklichen. Aber mit dem Dauerproblem, die richtige Balance zu finden, kam er, wie er selbst bezeugt, mit gutem Gelingen zurecht.
Für seine Lebensphilosophie zutreffend schrieb er über den 2. Satz seiner 2. Sinfonie: "Das Leben ist zu ernst, um es ernst zu nehmen." (TV Interview, 14.11. 1998) Er selbst nimmt sich in seiner Selbstdarstellung auch nicht übermäßig ernst. Man vergleiche z.B. das Titelblatt seines Buchs Being George and liking it. Hier wird gezeigt, wie er eine plastische Karikatur seiner selbst auf einem Fahrradanhänger an Zuhörern vorbeifährt. Im Originalfoto sieht man, wie hinter ihm eine Brass Band die Straße entlang marschiert.
Kann man nach dem Gesagten bei ihm im gleichen Sinne von "Drangsalen" sprechen wie bei Odysseus? Kurze Antwort: Bei Odysseus ist in der Tat Mit-Leid über erfahrene Drangsale, bei Dreyfus hingegen ist Mit-Freude über großes Gelingen angesagt.
Während des Festaktes v.l.n.r. - George Dreyfus, Hajo Jahn, Prof. Platz, Ursula Schulz, (Bürgermeisterin), Julia Wolf (Rezitatorin), Petra Wunderlich (Vorsitzende der Kirchen-Gemeinde) (Foto: Manfred Brusten)
Nochmaliger Musenanruf:
Sage mir, Muse, noch etwas mehr von unseres Helden Taten
Penelope und Klio intervenieren. Sie fragen: Wann kommt der irdische Laudator auf George Dreyfus' große Taten zu sprechen, seine überragenden Leistungen als Komponist?
Hier muss man zunächst einmal Luft holen. Sein Oeuvre ist überwältigend reichhaltig und vielseitig. In dem jetzt vorliegenden Gesamtkatalog seiner Werke – im neuesten Buch Don't ever let them get you! – sind aufgelistet:
Die Diskografie seiner auf Tonträgern publizierten Veröffentlichungen ist sehr ergiebig, und das ist nicht verwunderlich. Aber leider sind die meisten seiner CDs in Deutschland nicht käuflich zu erwerben (und das ist in höchstem Maße beklagenswert).
Der zu Ehrende hat selbst entscheidend dazu beigetragen, dass man die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte seiner Werke leicht überblicken kann. In seinen Büchern ist man immer wieder beeindruckt, etwas darüber zu erfahren, unter welchen lebensgeschichtlichen Umständen die einzelnen Werke jeweils komponiert wurden. Außerdem erstaunt die buchhalterisch präzise Aufzählung der Besprechung seiner Werke. Besonders viel Mühe hat er dafür verwendet, die deutschen Pressereaktionen auf die Opern Rathenau und Die Marx Sisters aufzulisten und zugänglich zu machen.
In seinen Buchveröffentlichungen ist es reizvoll zu beobachten, dass er die beiden ersten Takte von Rush immer wieder zitiert. Rush war die Titelmusik einer geradezu klassischen australischen Abenteuer-Serie, die 1974 im Fernsehen lief. Man gewinnt den Eindruck, dass die Rush-Melodie zu seinem Mantra geworden ist. Rush ist ein kurzes Musikstück mit einem sehr einprägsamen Hauptmotiv am Anfang. Kein anderes Stück hat der Komponist in so vielen unterschiedlichen Besetzungen bearbeitet. 8
In Australien kennt natürlich jeder Rush sowie sein weiteres Evergreen The Adventures of Sebastian the Fox, die musikalisch-literarische Geschichte eines schlauen Füchsleins. Das war einmal eine Kindersendung bei ABC. In der Variante eines Zeichentrickstummfilms ist das schlaue Füchslein Sebastian inzwischen zu einem Exportschlager vorgerückt. 2007, 2008 und auch 2009 wurde dieses Stück erfolgreich an der Berliner Oper sowie an mehreren deutschen Schulen aufgeführt. Die Geschichte wird von George Dreyfus’ Sohn Jonathan erzählt, der überdies auf der Geige spielend (als Stehgeiger) ein kleines Instrumentalensemble leitet.
Ein Grundmotiv im Schaffen von George Dreyfus ist es, eine Musik zu schreiben, die sich Gehör verschaffen kann. Das gelingt ihm zunächst einmal mit seiner Filmmusik. Diese vermochte er als musikalischen Nachschlag zu den Filmen über viele CDs geschickt zu vermarkten. Hierbei legte er öfter neue Bearbeitungen für unterschiedliche Instrumente vor. Dazu gehören die Arrangements von Break of Day, Let the Balloon go, Power without Glory und immer wieder Rush.
Wenn man die populäre Musik aus seinen Filmen hört, dann begegnet man stets etwas Herzlichem, was man gemeinhin grundsympathisch nennen könnte. Die schönen Klänge wirken manchmal auch witzig und schalkhaft. Populär stellt Dreyfus sich aber nicht nur dann dar, wenn er einschmeichelnd Klänge wie Rush und Marion zu Gehör bringt, sondern auch dann, wenn er ein Blasorchester oder eine Brass Band mit Pauken und Trompeten bei vollem lautstarkem Pomp aufmarschieren lässt. Bei den Blaskapellen Australiens erwarb er eine legendäre Allgegenwart. Denn die Zunft der Blechbläser hat er geradezu überschwänglich mit Klangmaterial versorgt. Das hat in Australien sozio-historische Gründe: es gibt dort viele Blasorchester oder Brass Bands, die in früherer Zeit der einfachen Bevölkerung oder der Arbeiterschaft sehr nahe standen. Die Blaskapelle erfüllte in der australischen Stadt eine wichtige soziale Funktion, sie ermöglichte es den Menschen einander zu treffen und sich auszutauschen. Die Kulturgeschichte der Brass Band würde einen eigenen Vortrag oder Aufsatz ergeben. Nur so viel sei hier gesagt: Man ließ sich in australischen Städten gern mal von einem Blasorchester unterhalten – auch von dem der Heilsarmee. Dreyfus selbst war sich nie zu gut dafür, immer wieder mal ein Blasorchester zu dirigieren (z.B. auch verschiedene Polizeiorchester in Deutschland, wie er mir mal genüsslich erzählte).
Prof. Dr. J. Dorfmüller an d. Orgel, spielte mehrere Musikstücke v. George Dreyfus (Foto: Manfred Brusten)
Die Reise-Metapher der Odyssee lässt sich nicht nur auf sein Leben, sondern auch auf sein Gesamtwerk beziehen. Er reist gewissermaßen von Genre zu Genre und von Stil zu Stil. Nicht nur bei seinen Reiseaktivitäten, sondern auch in seinem künstlerischen Schaffen musste er viele Grenzen überschreiten. So findet man neben der Filmmusik und den Kompositionen für Blasorchester auch Lieder in Anlehnung an das deutsche Kunstlied. In besonderen workshops entstand überdies Musik für Schulen und deren speziellen Bedürfnisse. Seine beachtliche Kammermusik würde in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ihr bislang zuteil wurde. Seine geistliche Musik blieb hierzulande weitgehend unbeachtet z.B. seine für eine Gemeinde im Unisono leicht zu singende Volksmesse mit grandioser Bläserbegleitung.
Dreyfus bedient die Erwartungen sowohl von gefälliger Klanglichkeit und als auch von moderner harmonischer Bindungslosigkeit der Töne. Am gewagtesten sind seine beiden Opern Rathenau und Die Marx Sisters. Beim Überblick über sein Werk bleibt sein ständiges Experimentieren mit musikalischen Ausdrucksstilen unüberhörbar . Er gibt sich nachromantisch-modern und experimentell-provokativ-postmodern. Dennoch lässt sich im Kern ein Dreyfus'scher Personalstil erkennen.
Nähme man sich sein Gesamtwerk vor, dann könnte man die ganze Breite moderner Musikästhetik studieren. Leider sind jedoch nicht alle Werke auf Datenträgern bequem zugänglich. Auf jeden Fall würde Dreyfus den aufgeschlossenen Musikliebhaber bei vergleichenden Hör-Erfahrungen reichlich belohnen und dessen Horizont erweitern.
Seine Seele zu retten und auch die Treue zur eignen Kunst
Es bedeutete ihm phasenweise sehr viel, volksnah zu sein und vom Publikum geliebt zu werden. Aber er wagte auch immer wieder Neues und vermied es nicht, da zu provozieren, wo er es für angebracht hielt. Er kann ein feinnerviger Träumer sein, muss aber in seinen verschiedenen Schaffensphasen mit neuen Herausforderungen fertig werden. Er meistert diese mit Bravour, wie nur einer wie er dies konnte. Die Provokation, die er mit seinen Opern Rathenau und Die Marx Sisters auslöste, hält er sich mit Recht und Stolz zugute.
Nach dem Festakt: Prof. Dr. N. Platz mit Prof. Dr..M. Brusten, der sich seit Jahren mit Familie und Lebenslauf von George Dreyfus beschäftigt (Foto: Viola Heise)
Blickt man auf sein Gesamtwerk, so erweist er sich als genial inspirierter Lebens- und Kunststratege. Als mutiger Musensohn bleibt er sich selbst und seiner Kunst treu. Er verspürt die Lust und Qual sich selbst oft zu wiederholen. Aber unter sich wandelnden Umständen setzt er auch häufig seine volle Kraft ein, um sich selbst zu überholen. Obgleich überaus wandlungsfähig hat er seine Seele gerettet und auch die Treue zur eignen Kunst. Über seine heutige Rückkehr zu seinem Geburtsort und seine Ehrung durch die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft freuen wir uns sehr. Wir alle wünschen ihm: er möge auch weiterhin das kumulierte Kapital seines Könnens schöpferisch genießen und uns an den Früchten seines Schaffens teilhaben lassen. Wir werden es ihm danken.
1 Cicero, Tuskulanen, I,2,4.
2 Bekanntlich komponierte George Dreyfus ein Fagott-Solo mit dem Titel Odyssey for a Lone Bassoon, 'Odysee für ein einsames Fagott'. Dies hat mich motiviert, sein Leben und Schaffen zunächst einmal versuchsweise in einer Homer'schen Schablone zu erfassen.
3 Mozarts Hochzeit des Figaro konnte er lediglich in einer von Amateuren dargebotenen Aufführung in der sog. National Opera erleben.
4 Hierzu wurde er angeregt von den gusseisernen Balkonverkleidungen und Umrandungen, die man im alten Melbourne noch vorfinden konnte. Die bildlichen, pittoresken Dekorationen werden in musikalische Figuren und Abläufe umgestaltet.
5 Als Musiklehrer hätte George einen verständnisvollen Herrn Pühl benötigt, der in Thomas Manns Roman Buddenbrooks dem begabten Hanno wertvolles handwerkliches Rüstzeug vermittelt. Über diesen Herrn Pühl heißt es im Roman (8.Teil, Kap. 6): "Was dieser [Lehrer] bezweckte und schnell erreichte, war ... eine klare, umfassende und eindringliche Übersicht über alle Tonarten, eine innere und überblickende Vertrautheit mit ihren Verwandtschaften und Verbindungen, aus welcher ... sich ... jenes intuitive Herrschaftsgefühl ergab, das zur Phantasie und Improvisation [und letztendlich zur Komposition] verführt ..."
6 Er hatte auch keinen Kompositionslehrer, der ihm die 'Schritte zum Parnass' aufzeigte. Im 18. Jahrhundert hätte er Johann Joseph Fux' Gradus ad Parnassum studieren müssen. So etwas ging im 20. Jahrhundert nicht mehr.
7 Er verweist mit einem scheelen und vielleicht doch auch neckischen Seitenblick auf die deutsche Tradition, wo Komponisten ihre – oft bedeutenden – "Lehrer" hatten, welche sich selbst ihren "Schülern" zur Nachahmung empfahlen.
8 Er geht davon aus, dass jeder die Musik gleich summt oder mitpfeift, wenn auch nur der Titel erwähnt wird.
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