Die Perspektive: Ein „Zentrum für verfemte Künste" macht es sich unter historischem Aspekt zur Aufgabe, die mehrfach durch die wirren Zeitläufe des letzten Jahrhunderts unterdrückte und gefährdete Freiheit des Geistes im Facettenreichtum seiner Künste lebendig zu erhalten. Dies geschieht auch im Wissen darum, dass nur das kulturelle Gedächtnis hilft, potentiellen Bedrohungen von Freiheit und Demokratie rechtzeitig zu wehren.
Zur Situation: Mit Datum vom 26. März 2004 hat der Regierungspräsident in Düsseldorf/die „Bürgerstiftung für verfemte Künste mit der Sammlung Gerhard Schneider; Solingen" als selbständige Stiftung anerkannt. Neben drei privaten Stiftern ermöglicht das Projekt als vierte Stiftungspartei die „Kunstmuseum Solingen Betriebsgesellschaft". Sie stellt laut Stiftungsurkunde das Obergeschoss des Solinger Kunstmuseums „Museum Baden" für eine dauerhafte Präsentation von Werken aus der Sammlung Gerhard Schneider und Zustiftungen zur Verfügung.
Diese Ausgangsbasis konfrontiert die Öffentlichkeit zunächst im Bereich der bildenden Kunst mit Werken von Künstlern, die durch die Verwerfungen in der Kunst-Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht die ihrem künstlerischen Rang entsprechende Anerkennung erfahren haben. Im wesentlichen geht diese Tatsache auf die unselige Zeit des Naziregimes zurück, das alles Moderne, alle Neuerungen in der Kunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts als „entartet" brandmarkte. Expressive Ausdrucksformen, neben der Bildenden Kunst das facettenreiche Feld der Literatur, aber ebenso neue Musik im klassischen wie im Unterhaltungsbereich wurden unter rassistischem Aspekt gesehen und diffamiert. Man strebte eine „arisch reine" Kunst an und schmähte alle Neuerungen als „verjudete, kulturbolschewistische Verfallskunst" die dem „gesunden Volksempfinden" widerspräche. Dieses massive politische Vorgehen gegen die Freiheit der Künste, ihre Unterdrückung und die Verfolgung der Künstler, teils bis in den Tod, beinhaltet der Begriff „Verfemung".
Ein weiteres Kapitel gegen künstlerische Freiheit zeitigten die Folgeerscheinungen des Zweiten Weltkriegs mit derTeilung in eine östliche und eine westliche Hemisphäre. Im Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und späteren DDR forderte man den „Sozialistischen Realismus" ein. Kunst, die sich nicht an Maximen der sozialistischen Gesellschaft orientierte, wurde staat-licherseits nicht akzeptiert und geduldet. Einer Aufarbeitung bedarf aber auch, dass im Zuge des „kalten Krieges" Kunst expressiver Gegenständlichkeit im Westen unter ideologischem Aspekt zugunsten ungegenständlicher Darstellungsprinzipien über Jahrzehnte kaum Beachtung fand und allenfalls eine periphere Duldung erfuhr.
Ein gemeinsames Ziel: Bei der Verwirklichung des „Zentrum für verfemte Künste" arbeiten die gleichnamige Fördergesellschaft e.V. (früher „FG .Museum für verfemte Kunst1") und die „Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft e.V.", Wuppertal, mit ihrer „Stiftung für verbrannte und verbannte Dichter- / Künstler Innen" mit der Bürgerstiftung Hand in Hand. Die „Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft" verweist dabei auf die Doppelbegabung ihrer Namensträgerin, deren Bücher verfolgt und de-
ren Bilder 1937 als „entartet" aus der Berliner Nationalgalerie entfernt wurden. Die Biographie der bereits 1933 emigrierten Künstlerin Else Lasker-Schüler - sie verstarb 1945 in Jerusalem - ist ein Beispiel für die Verfolgung von Intellektuellen in beiden deutschen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Die ELS-Gesell-schaft sieht ihre primäre Aufgabe in der Pflege all jener Literatur; die im Widerstand, im Exil oder in der inneren Emigration entstand. Ihr aktuelles Engagement richtet sich auch auf in autoritären Regimes aktuell „verfolgte" Schriftsteller und ihre Literatur Wie ein „Zentrum für verfemte Künste" als interdisziplinäre Einrichtung arbeiten könnte, haben die internationalen „Else-Lasker-Schüler-Foren" gezeigt; und eine Art Zentrum in virtueller Form bietet das gemeinsame Internetprojekt www.exil-archiv.de.
Schließlich muss auch der Bereich Musik in einem „Zentrum für verfemte Künste" repräsentativ vertreten sein. 1938 veranstalteten die Nazis in Düsseldorf in ihrem völkischen Wahn eine Hetzkampagne gegen „Entartete Musik", wie sie ein Jahr zuvor in München „Entartete Kunst" diffamiert hatten.
Der erste Schritt zur Verwirklichung eines „Zentrum für verfemte Künste" ist mit der Dauerausstellung getan, die seit dem 12. Dezember 2004 im Solinger Kunstmuseum zu sehen ist. Sie basiert auf Teilen der Sammlung Gerhard Schneider; die bereits, bundesweit gezeigt, als Meilenstein in der Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte des Expressionismus, speziell der expressiven Gegenständlichkeit, und weiterer Phänomene vergessener Kunst und Künstler gilt. Sie soll in den nächsten Jahren vollständig in den Bestand der Stiftung übergehen. Auch eine Reihe von Zu Stiftungen zeichnet sich ab, sodass das Gesamtbild der „verschollenen Generation" (Rainer Zimmermann) detailreichere Konturen gewinnt und vor allem der jüngeren Generation der „klassischen" Moderne endlich der Platz gesichert wird, der ihr kunsthistorisch gebührt. Die Verfemungs- und Vernichtungsaktionen der Nazis richteten sich nämlich nicht nur gegen die Avantgarde der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, sondern in gleicher Weise gegen viele jüngere Künstler in ihrer Nachfolge. Jene waren erst dabei, sich einen Namen zu machen, als das Verdikt über ihre Kunst gesprochen wurde. Öffentlich an den Pranger gestellt und aufgrund persönlicher Repressalien ging ein Teil ins Ausland; die Mehrheit zog sich in die innere Emigration zurück. Vor allem jüdische Künstler; die Deutschland nicht beizeiten verlassen hatten, kamen in Konzentrationslagern ums Leben. - Gegen Ende des Krieges wurden viele Kunstwerke, ganze Künstlerateliers Opfer des Bombenhagels; weitere bis dahin geschaffene Lebenswerke gingen durch die Vertreibung verloren. Etwa zwei Drittel jener Künstlergeneration verloren ihr Frühwerk durch Kriegseinwirkungen.
Nach Kriegsende versuchte die Mehrheit derjenigen, die im Lande überlebt hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren, an verschüttete Traditionen vor 1933 anzuknüpfen. Doch im geteilten Deutschland wurde auch das Kunstgeschehen von unterschiedlichen Tendenzen und Einflüssen beeinträchtigt. Im Westen gewannen neben einer Rückbesinnung auf die zum Teil schon vor dem Ersten Weltkrieg bekannten Künstler der ersten Generation der Moderne ungegenständliche Strömungen die Oberhand. Der „abstrakte Expressionismus", insbesondere informelle Kunst, stand im Kalten Krieg gegen den im Osten verordneten „sozialistischen Realismus". Ungegenständlichkeit wurde nicht nur als Ausweis der Freiheit verstanden, sondern als „Ziel" jedes Kunstschaffens postuliert. Dabei wurden die weiterhin gegenständlich Orientierten entweder als „überholt" abgestempelt, oder; was härter traf, im nachhinein als Vorbereiter der braunen „Blut- und Bodenkunst" desavouiert.
Das hing auch damit zusammen, dass der im Osten geforderte „sozialistische Realismus" mit ähnlichen Forderungen nach Volksnähe arbeitete, wie es die Nationalsozialisten getan hatten. Die Künstler sollten ihr Schaffen in den Dienst der kommunistischen Ideologie und die Förderung der sozialistischen Gesellschaft stellen. Künstler; die sich in subjektiv-expressiver Weise äußerten, sah man als „Vertreter der im Verfaulen begriffenen Kunst des Kapitalismus" an. Weil sie der individuell gestalteten Form den Vorrang einräumten gegenüber naiv- realistischen Bildinhalten, geißelte man sie als der Bourgeoisie verfallene „Formalisten".Bei der Gesamtbetrachtung der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts, den Verfemungs-aktionen der Nazis, dem Dominanzanspruch ungegenständlichen Schaffens im Westen und dem „Formalismusstreit" im Osten, wird offenkundig, dass eine große Zahl von Künstlern entweder unter den politischen Regimes gelitten hat oder ihr aufgrund diverser Ideologien die gebührende Würdigung und Anerkennung versagt geblieben ist. Der Kunstbesitz der Bürgerstiftung mit der Sammlung Gerhard Schneider erhellt dieses bislang weitgehend ignorierte, teils auch verdrängte Faktum in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zugleich in seiner historischen Dimension. Und fraglos haben die Bedrängungen der Zeit eine Reihe von Künstlern zu bislang übersehenen Meisterleistungen getrieben. Die Stiftungskollektion zweckt auch darauf ab zu zeigen, wie sich, das Jahrhundert durchziehend, trotz unterschiedlich akzentuierter politischer Zwänge eine stets wandelnde und zugleich doch aus einem Ursprung gespeiste Färb- und Formensprache etabliert hat, die keinem Ismus verpflichtet, vielmehr in erster Linie von einer freien künstlerischen Gestaltungshaltung geprägt ist. Sie bleibt der erfahrbaren und erlebten Welt verpflichtet und schreibt sie mit den Innovationen der Moderne durch Expressionismus und Kubismus, die sich zugleich mit Möglichkeiten abstrakter Implikationen verbinden, jenseits enger tradierter Stilbegriffe fort. Für diese offene Gestaltungshaltung gegenüber der sichtbaren Welt prägte der Sammler den Begriff „expressive Gegenständlichkeit". Mit der musealen Präsentation erhält diese „ignorierte Parallelkunst des 20. Jahrhunderts" (Matthias Arnold) eine nachhaltige Chance der Würdigung und Aufarbeitung.